Myasthenia gravis (ICD-10 G70.0)

Myasthenie, Myasthenia gravis pseudoparalytica (Erb-Goldflam)

  • Erstbeschreibung durch Thomas Willis , „De anima brutorum" , Bezeichnung als „Paralysia spuria non habitualis"
  • 200 Jahre später Erkrankungsbericht von Samuel Wilks über junge Frau die im Verlauf an einer Zwerchfelllähmung starb
  • Namensgebung „Myasthenia gravis pseudoparalytica" durch den deutschen Arzt Friedrich Jolly , Nachweis des elektrophysiologische Dekrements
  • Erste Thymektomie durch Sauerbruch (1911)
  • Erstbehandlung mit Physostigmin wohl durch englische Ärztin Mary Walker (1934)
  • Nachweis des Defekts des AchR 1973 durch Fambrough, Drachman, Satyamurti

Ätiologie

  • Antikörper vermittelte Autoimmunerkrankung mit Bildung von Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren (ACh-R) an der postsynaptischen Membran
  • Auslösung durch verschiedene Medikamente möglich (siehe Liste)
  • Vermutung einer HLA-Assoziation

Epidemiologie

  • w>m
  • Auftreten meist im Alter von 20-40 Jahren
  • Frauen erkranken früher (bis 3. Dekade)
  • Männer häufiger ab 5. Dekade
  • Inzidenz: ca. 1-5/1.000.000
  • Prävalenz: ca. 3-50/1.000.000
  • Bezüglich Prävalenz und Inzidenz sehr stark variierende Daten!
  • bis zu 15% paraneoplastisch (Tumoren des Thymus)

Formen

Kongenitale Form

  • Trinkschwäche, Bewegungsarmut, gel. Dyspnoe, durch diaplazentare Übertragung von Antikörpern myasthenischer Mütter, Abklingen innerhalb von Wochen

Okuläre Form

  • Isolierte Affektion der Augenmuskeln mit Ptosis und evtl. Okulomotorikstörung

Generalisierte Form

  • Affektion der Hirnnerven (Okulomotorik, Ptosis, Sprechen, Schlucken) Nackenmuskulatur, Atem- und Extremitätenmuskulatur

Symptome

  • Belastungsabhängige Schwäche der quergestreiften Muskulatur, meist beginnend an Muskeln mit kleinen motorischen Einheiten (Lidheber, Augenmuskeln)
  • Rasche Erholung der Ermüdung
  • Zunahme im Tagesverlauf
  • Initial Ptosis (ein-/beidseitig), Doppelbilder
  • Kloßige/näselnde Sprache
  • Schwäche des Schluck- und Kauapparates (=> Aspirationsgefahr, Gewichtsabnahme), ebenso der sonstigen mimischen Muskulatur (Facies myopathica)
  • Häufig Betonung der Schultergürtel- und Halsmuskulatur bzw. stammnahe Muskelgruppen
  • Muskelatrophie (bei chronisch schweren Verlaufsformen)
  • Selten Schwäche der Atemmuskulatur
  • Häufig unsystematische Verteilung der Schwäche!

Myasthene Krise

  • Neurologischer Notfall mit Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung
  • Plötzlich einsetzende respiratorische Insuffizienz und Aspirationsgefahr
  • Generalisierte Muskelschwäche
  • Mydriasis, Ptosis, Tachykardie, Blässe, Schluckstörung, ev. Zwerchfellparese
  • Häufige Ursachen:
    Infektionen, Medikamenteneinnahmefehler oder plötzliche Beendigung einer bestehenden Immunsuppression, Operationen unter Vollnarkose, Entbindung
  • Auftreten insbesondere bei multimorbide Patienten in höherem Lebensalter
  • Mortalität 4-10%, auch unter intensivmedizinischer Behandlung

Cholinerge Krise

  • Hervorgerufen durch Überangebot von Acetylcholin, induziert durch Gabe von Cholinesterasehemmer.
  • Akute Muskelschwäche, Durchfälle, Bradykardie, Hypersalivation, Miosis, Tremor, Faszikulationen, warme Haut, Verwirrtheit
  • Antidot: Atropin
  • Gel. Beatmung erforderlich

Besonderheiten bei der klinischen Untersuchung

Inspektion

  • Facies myopathica, gel. in den Nacken legen des Kopfes zur Kompensation der Ptosis

Simpson Test

  • Blick nach oben für mind. 1 Minute => Auftreten oder Verstärkung einer vorbestehenden Ptose

Jollys Test

  • Wiederholtes Faustöffnen/- schließen mit Nachlassen der Kraft (auch mittels Dynamometer - quantitative Messung)

Cogan-Lidschlagzeichen

  • Entlastung des M. levator palpebrae (Blick nach unten) => Blick geradeaus => überschießende kurze zuckende Lidhebung, dann erneutes Absinken des Lides (Ptose)

Kältetest

  • Kühlung des Auges (z.B. durch Eisbeutel) => Besserung der Ptose

Kraftprüfungen

  • Längeres Armheben über die Horizontale, wiederholtes Anheben des Kopfes aus dem Liegen, Vorlesen lassen

Myasthenie Scores und Klassifikationen

MGAF-Klassifikation

  • Klassifikation der Myasthenia Gravis Foundation of America
  • Unterteilung in 5 Schweregrade
  • Link zur MGAF-Klassifikation unter "Skalen und Scores"

Besinger Score

  • Test mit Punktwerten von 0-24
  • Beinhaltet Beurteilung der okulären, fazialen, oralen (Schlucken/Sprechen), Nacken- und Extremitätenmuskulatur als auch Vitalkapazität
  • Link zum Besinger Score unter "Skalen und Scores"

Ossermann Klassifikation

  • Grobe Klassifikation der Myasthenia gravis von I - okuläre Form bis Grad IV, schwere generalisierte Form
  • Link zur Ossermann Klassifikation Score unter "Skalen und Scores"

QMG Score

  • Test mit Punktwert von 0-39
  • Beinhaltet Beurteilung der okulären, fazialen, oralen (Schlucken/Sprechen), Nacken- und Extremitätenmuskulatur , Handkraft als auch Vitalkapazität
  • International gebräuchlich - inhaltlich weitgehend dem Besinger Score entsprechend
  • Jaretzki et al. Neurology 2000;55 (1) - Myasthenia gravis - Recommondations for clinical resaerch standards

 

 

Assoziation Antikörper - Klinische Manifestation

Acetylcholin Rezeptor Antikörper (AChr)

  • Ca. 80% der Erkrankungen
  • Meist generalisierte Manifestation mit Beteiligung der Augenmuskeln und stammnahe Muskulatur
  • Gutes Ansprechen auf Therapie

Muskelspezifische Tyrosinkinase Antikörper (MUSK)

  • <5% der Erkrankten
  • Positiv bei 40-70% der generalisierten MG (ohne AChR-Antikörper)
  • Bulbäre Symptomatik häufig (Sprechen, Kauen, Schlucken)
  • Affektion Atemmuskulatur
  • Dropped head
  • Schlechteres Ansprechen auf Pyridostigmin und Immunsuprresiva
  • Thymektomie wohl ohne Effekt

Seronegative Myasthenia gravis

  • Ca 5% der Erkrankten
  • Generalisierte Manifestation entsprechend seropositiver Form
  • Klinisch meist leichtere Verläufe
  • Gutes Ansprechen auf medikamentöse Therapie
  • Effekt der therapeutischen Thymektomie unklar

Diagnostik

Tensilontest

  • Intravenöse Gabe von Edrophoniumchlorid (Acetylcholinesterasehemmer) unter Monitoring => Besserung der myasthenen Symptomatik für wenige Minuten.
  • Durchführung:
    • Aufziehen von 10mg (=1ml) Edrophoniumchlorid auf 10 ml NaCl, Applikation von 2 mg Edrophonium, bei Ausbleiben von Nebenwirkungen nach 30 Sekunden Gabe von weiteren 3 mg Edrophonium, dann nach 1 Minute Applikation des Restes von 5 mg.
    • 1 mg Atropin als Antidot aufgezogen bereithalten bei Kreislaufdysregulation (z.B. Bradykardie)
    • Negativer Tensilontest: Ausbleiben einer Besserung der betroffenen Muskelgruppen
    • Positiver Tensilontest: Besserung der Kraft der betroffenen Muskelgruppen, somit hochverdächtig auf Vorliegen einer Myasthenia gravis
  • Kontraindikation: bradykarde Herzrhythmusstörungen, Asthma bronchiale

Elektrophysiologie

Elektromyographie mit repetitiver Stimulation:

  • Supramaximale repetitive Stimulation eines peripheren Nerven mit einer Frequenz von 2-3 Hz, Ableitung am entsprechenden Muskel mit Oberflächenelektroden
  • Pathologisch: Amplitudenabfall (Dekrement) zwischen 1. und 5. Stimulation von >10% ggf. Wiederholung nach 1 Minute Maximalinnervation des untersuchten Muskels
  • Bevorzugte Muskeln: M. nasalis, M. deltoideus, M. trapezius, bei okulärer Myasthenie M. orbicularis oculi
  • Einzelfaser-EMG
    • Erhöhter Jitter, gel. mit Blockierungen:
    • Erhöhte Variabilität des zeitlichen Abstands der Muskelaktionspotentialen zweier benachbarter Fasern einer motorischen Einheit
    • Folge variierender zeitlicher Intervalle der neuromuskulären Übertragung

Labordiagnostik

  • Acetylcholinrezeptor-Antikörper (AChR-AK)
    • Positiv: 80-90% bei generalisierter Myasthenia gravis
    • Positiv: 50-70% bei okulärer Verlaufsform
    • Positiv: nahezu 100% bei paraneoplastischer Myasthenie und Thymom
    • Keine Korrelation mit der Klinik!
  • Antikörper gegen muskelspezifischen Tyrosinkinase-Rezeptor (MuSK)
    • Bei fehlendem Nachweis von AChR-AK, jedoch weiterem Verdacht auf Myasthenia gravis: Bestimmung des Antikörpers gegen muskelspezifischen Tyrosinkinase-Rezeptor (MuSK)
    • Positiv: ca. 40% mit generalisierter seronegativer Myasthenia gravis
  • Anti-Titin-Antikörper:
    • 50% der MG-Patienten, mit Thymom haben positive Antikörper

Radiologische Bildgebung

  • Thorax CT (Frage Thymom)
    Thorax-MRT: Bei Nachweis eines Thymoms (Kardiale Invasion?)
  • Bei reiner okulärer/oropharyngealer Symptomatik cCT/cMRT (Ausschluß Raumforderung)
  • FDG-PET /PET-CT
    Frage eines Thymomrezidivs

Therapie (Detaillierte Informationen nach Login)

Um detaillierte Informationen zu den Präparaten zu erhalten loggen Sie sich bitte mit DocCheck in den Ärztebreich ein.
(Diese Seite muß dann hierzu neu geladen werden)

Cholinesterasehemmer: Pyridostigmin

  • Wirkungsabhängige Dosiserhöhung

Kortikosteroide: Prednison, Prednisolon

  • Monotherapie oder Kombination mit Cholinesterasehemmern und Azathioprin.
    Cave: Initiale Verschlechterung für Tage möglich, immunsuppressiver Effekt erst nach 2-3 Wochen

Therapierefraktäre Myasthenia gravis

  • Eculizumab
  • Bei Nachweis von Acetylcholinrezeptor-Antikörpern

Azathioprin

  • Therapieindikation bei mäßiger bis schwerer generalisierter Myasthenia gravis im Erwachsenenalter
  • Wirkungseintritt nach 3-6 Monaten
  • Regelmäßige Blutbildkontrollen: Leukozytenzahl 3500 bis 4000/µlBei Leukozytenzahlen unter 2500/µl => vorübergehend absetzen

Alternative medikamentöse Therapie

  • Bei unzureichendem Ansprechen auf Azathioprin
  • Ciclosporin A (off-label-use)
  • Mycophenolat-Mofetil (off-label-use)
  • Methotrexat (off-label-use)
    • Kombination mit Folsäure (5mg)
  • Tacrolimus (off-label-use)

Thymektomie

(transsternal, endoskopisch transthorakal)

  • Thymom:
    • Thymektomie in jedem Lebensalter
    • Durchführung unabhängig vom Schweregrad
  • Bei seronegativer Myasthenia gravis: umstritten
  • Bei rein okulärer Myasthenia gravis: umstritten
  • Indikation zur Thymektomie ohne Thymomnachweis
    • Nur im Alter von 15-60 Jahren
    • Möglichst innerhalb von 1-2 Jahren nach Diagnosestellung

Eskalationstherapie

  • Eculizumab
  • Cyclophophosphamid
  • Bei unzureichendem Ansprechen:
    • Plasmapherese
    • Intravenöse Immunglobulingabe
    • Rtiuximab (off-label-use)
    => bis zur klinischen Besserung des Patienten

Verlauf

  • In über 80% Generalisierung

Differentialdiagnose

  • Wernicke-Encephalopathie, endokrine Orbitopathie, intrakranielle Raumforderungen, okuläre Muskeldystrophien okuläre Myositiden, Horner-Syndrom, Miller-Fisher-Syndrom, Bulbärparalyse, Mitochondriopathien, Botulismus, Lambert-Eaton myasthenes Syndrom, Botulismus, dyskaliämische periodische Lähmunge, mitochondriale Myopathien

Selbsthilfegruppen

  • Siehe unter <link adressen>Adressen

Bitte beachten Sie den Haftungsausschluß.