Alexander R. Lurija - Biographie

7. Theorie der funktionellen Systeme nach A. R. LURIJA

Mit seiner Theorie, welche die zentrale Verarbeitung der Prozesse im Gehirn erklären will, entwickelt LURIJA den Ansatz weiter, dessen Grundlage WYGOTSKIJ im Rahmen der Kontexttheorie mit seiner interaktionistischen Sicht bereits gelegt hatte.

7.1 Revision der Begrifflichkeit

Bevor die auf dieser Sichtweise fußende Theorie der funktionellen Systeme von LURIJA (1998) näher erläutert wird, werden nun zunächst einige Grundbegriffe geklärt werden, die aus interaktionistischer Sicht eine neue Betrachtungsweise verlangen und alte Vorstellungen revidieren.

7.1.1 Funktion - funktionelles System

Allgemein - so führt LURIJA (1998) aus - wird unter dem Begriff der Funktion im klassischen Sinne die „Funktion spezifischer Gewebearten" verstanden, also elementare Aufgaben, die diese Zellverbände übernehmen. Ein Beispiel für solch spezielle Gewebearten wäre die Niere, welche die spezielle Funktion der Giftelimination, der Blutreinigung und der Hormonproduktion für die Blutbildung zukommt. Auch die Wahrnehmung des Lichtes kann als Funktion lichtempfindlicher Bestandteile der Netzhaut sowie hochspezialisierter Neuronen der Sehrinde des Großhirns erklärt werden. Sie werden mit diesem Begriff demnach als isolierte Funktionen angesehen.

Den Einzelfunktionen wird der Begriff der funktionellen Systeme gegenübergestellt, der eine Funktion in einem größeren Gesamtzusammenhang sieht. LURIJA (1998) verdeutlicht dies am Beispiel des Atmens. Dieser komplexe Vorgang kann nicht als einfache Funktion verstanden werden, die durch ein bestimmtes Gewebe zustande kommt. Um das Ziel zu erreichen, die Lunge mit Sauerstoff zu versorgen und die Weiterleitung ins Blut sicherzustellen, sind auch noch weitere unterschiedliche Systeme notwendig wie z. B. der Bewegungsapparat oder das Nervensystem, die den Vorgang des Atmens aufrecht erhalten.

Die Verwirklichung komplexer Aufgaben ist also nur mit Hilfe eines ganzen Systems von Funktionen möglich, das LURIJA (1998), in Anlehnung an ANOCHIN (1898 - 1974) (1967), funktionelles System nennt. Es bildet das Kernstück der Theorie von LURIJA. Alle Funktionen des Organismus müssen demnach als Systemfunktionen verstanden werden, da sie immer Teil eines Ganzen darstellen.

So ist z. B. auch das Verstehen und Produzieren von Sprache nur durch integrierte Zusammenarbeit mit verschiedenen Subsystemen möglich, welche mit den Gehirnarealen des Wernicke- und Brocazentrums, die in hohem Grade auf Sprachverstehen bzw. ihre Produktion spezialisiert sind, zusammenarbeiten (BREITENBACH 1996b).

LURIJA (1998) nennt zwei wesentliche Merkmale eines funktionellen Systems:

Unveränderliche Aufgabenstellung, invariantes Ergebnis, variabler Weg

Jedes funktionelle System ist gekennzeichnet durch die Existenz einer unveränderlichen Aufgabenstellung sowie eines invarianten Ergebnisses. Die Bewältigung des Weges, der zur Lösung einer Aufgabe beschritten wird, kann dagegen auf verschiedene Art und Weise geschehen. So besteht z. B. das funktionelle System eines Schreibvorgangs in der invarianten Aufgabe, etwas zu schreiben. Die Verwirklichung dieses Prozesses kann jedoch auf unterschiedlichste Weise vonstatten gehen, z. B. mit Füller oder Bleistift, mir der linken oder rechten Hand, auch mit dem Mund, im Sitzen oder Stehen etc.. Der Inhalt als Ergebnis wird immer das gleiche bleiben, ebenso wie die charakteristischen Züge der Hand- (oder Mund-) Schrift des jeweiligen Schreibers. Somit bestätigt sich auch hier das Sprichwort von den vielen Wegen, die nach Rom führen.

Komplexer Aufbau und Plastizität der Bestandteile

Aufgrund der komplexen Zusammensetzung der Systeme werden afferente (für die Anpassung zuständige) und efferente (für die Ausführung zuständige) Impulse ständig miteinander verglichen. So müssen z. B. Bewegungen durch afferente Anteile kontrolliert werden, die Aufschluss über die Lage des Organismus im Raum oder die Körperspannung (Tonus) geben.

Diese Informationen können dann mit dem efferenten Bewegungsplan verglichen und die Ausführung so gesteuert werden. Somit ist es dem Organismus möglich, ein Ziel situationsadäquat zu erreichen. Durch die Komplexität des Aufbaus ist die Verwirklichung des oben genannten ersten Merkmals überhaupt erst möglich, da dem Organismus eine Vielzahl an variablen Möglichkeiten zur Erreichung eines invariablen Zieles zur Verfügung stehen.

Im Gegensatz zu der in der klassischen Neurologie vorherrschenden Vorstellung von einem statischen Modell von festgelegten Zentren mit ihren Funktionen sieht die Neuropsychologie nach LURIJA (1998) folglich den Funktionsbegriff als dynamisches Modell, wonach zahllose Systeme miteinander interagieren und für die Dauer der Bewältigung einer Aufgabe eine Einheit bilden. Ist die Aufgabe erledigt, zerfällt das jeweilige funktionelle System wieder und die daran beteiligten Subsysteme sind bereit, neue Systeme zu bilden.

Dieser Vorgang ist jedoch nicht willkürlich, da das ZNS speichert, welche Subsysteme wie und bei welcher Aufgabenstellung in einem System zusammenarbeiten (BREITENBACH 1996b). Diese Leistung des ZNS stellt nichts anderes dar als Lernen, nur aus neuropsychologischer Sicht.

7.1.2 Dynamische Lokalisation

Die dargestellte neue Sichtweise von der Struktur funktioneller Systeme und des sich daraus ergebenden Aufbaus höherer psychischer Funktionen hat auch eine neue Sichtweise von der Lokalisation psychischer Funktionen zur Folge, die auch schon im vorangehenden Punkt anklingt.

LURIJA (1998) legt zwei Tatsachen hinsichtlich der Arbeitsweise des Gehirns dar, die als wesentliche Merkmale einer sog. systemischen Lokalisation gelten können:

Externe Mittel

Wie bereits in der kulturhistorischen Theorie der Troijka dargelegt (I, 3.2) sind höhere psychische Prozesse immer auch auf externe Mittel im Sinne von geschichtlich gewordenen Werkzeugen und Hilfsreizen angewiesen. Als solcherart wird die Sprache aufgefasst, der eine Organisationsfunktion hinsichtlich des Denkens und Verhaltens zugeschrieben wird (z. B. in Form von Stichworten), aber auch Hilfsreize wie der berühmte Knoten im Taschentuch. Solche Mittel sind wesentliche Elemente bei der Knüpfung von Verbindungen einzelner und unabhängiger Funktionen zu neuen Aktivitäten des Gehirns. LEONTJEW (1973) nennt diese durch geschichtlich bedingte Mittel zustande kommenden Verknüpfungen auch „funktionelle Organe", deren Herausbildung auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Gehirns hinweisen.

Beschaffenheit

Ein weiteres damit zusammenhängendes Kennzeichen einer systemischen Lokalisation funktioneller Systeme ist in ihrer Beschaffenheit zu sehen. Durch die Tatsache, dass psychische Prozesse aufgrund der Variabilität der Wege auch durch unterschiedliche Verknüpfungen und Umwege zustande kommen können, kann auch ihre Lokalisation nicht als statisch und konstant angesehen werden.

Dies wird auch durch die Entwicklung psychischer Prozesse widerlegt. LURIJA (1998) nennt hierzu zur Verdeutlichung den Prozess des Schreibens: Zunächst setzt er sich aus einer Kette einzelner motorischer Impulse zusammen, die jeweils für einen Buchstaben zuständig sind. Durch Übung tritt mit der Zeit eine Veränderung ein. Die einzelnen Impulse werden von einer einheitlichen Bewegungsmelodie abgelöst, die nicht mehr an der visuellen Analyse einzelner Buchstaben „hängen bleibt", sondern sich mehr und mehr automatisiert (man muss nun nicht mehr über jede einzelne Handlungsabfolge nachdenken). Eine Weiterentwicklung stellen Schriftzüge wie die der Unterschrift dar, die noch unabhängiger von der visuellen und motorischen Analyse verwirklicht werden kann (nur unabhängig davon (vom Leseprozess) war es z.B. auch dem Offizier Sassezkij möglich zu schreiben, was auf eine enorme Kompensationsfähigkeit hinweist (siehe I, 6.2)).

Die Lokalisation höherer Prozesse wie der des Schreibens ist also als dynamische Lokalisation zu verstehen, die variable Verknüpfungen zulässt und sich im Lauf der Entwicklung verändert (GRAICHEN 1979).

Durch dieses dynamische Organisationsprinzip haben auch Verletzungen unterschiedliche Auswirkung, je nachdem, ob sie sich im Kindes- oder Erwachsenenalter ereignen (DIETEL 1995). Ist im Kindesalter ein Hirnbereich beeinträchtigt, der für relativ elementare Funktionen verantwortlich ist, wirkt sich dies systematisch auf die Entwicklung übergeordneter Hirnbereiche und damit die Ausbildung höherer psychischer Funktionen aus. Dagegen ist die Verletzung elementarer Strukturen im Erwachsenenalter weniger folgenschwer, da mittlerweile die übergeordneten Regionen organisiert sind und damit die bereits ausgebildeten höheren Funktionen diejenigen der untergeordneten Regionen integrieren können. Andererseits können Schädigungen höherer kortikaler Prozesse bei Erwachsenen dazu führen, dass elementare sensomotorische Funktionen nicht mehr integriert werden, aufgrund ihrer engen Verbindung mit hochorganisierten Strukturen.

LURIJA (1998) sieht deshalb die Hauptaufgabe einer Neuropsychologie nicht darin, umschriebene Gebiete im Gehirn zu lokalisieren, sondern vielmehr in der Analyse der funktionellen Systeme, die jeweils für die Verwirklichung einer komplexen psychischen Tätigkeit zuständig sind, deren Beziehungen im Lauf der Entwicklung und den Anteilen einzelner Teile am komplexen System.

7.1.3 Methodischer Ansatz der Neuropsychologie

Die Analyse der Organisationsstruktur funktioneller Systeme bedingt eine Methode, die für die Neuropsychologie unerlässlich ist und die auch im biographischen Teil der Arbeit bereits angeklungen ist. Sie liegt in der Untersuchung der Auswirkungen, die lokale Schädigungen auf psychische Prozesse haben bzw. wie sie diese verändern (LURIJA 1998). Die Veränderungen werden dann mit unversehrten Prozessen verglichen. Über diesen Weg erhofft man sich Aufschlüsse über die den psychischen Prozessen zugrundeliegende Funktionsweise des Gehirns, seiner Regionen und deren Zusammenspiel.

WYGOTSKIJ hat die Methode „zur Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist" auf anschauliche Weise darzulegen versucht:

„Der Historiker bedient sich ebenso wie der Geologe indirekter Methoden zur Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist, und am Ende wissen sie beide genau Bescheid über das, was einstmals gewesen ist. Auch der Psychologe befindet sich vielfach in einer ähnlichen Situation wie der Historiker und der Geologe. Seine Arbeit gleicht derjenigen eines Kriminologen, der eine Tat aufdeckt, die er nie gesehen hat" (WYGOTSKIJ, o.A.; zit. n. MECACCI 1986, 7).

Diese Methode, über gestörte oder nicht mehr vorhandene Funktionen Aufschluss über ihre normale Funktionsweise zu bekommen, bezeichnet LURIJA als „die Hauptmethode der neuen wissenschaftlichen Disziplin der Neuropsychologie" (1990, 103).

Er sieht darin einen neuen Zugang der Neuropsychologie zur Analyse des Aufbaus psychischer Prozesse und eine darauf aufbauende Möglichkeit, weitere umfassende Fortschritte in der Psychologie zu erzielen (LURIJA 1998).

7.2 Funktionale Einheiten

Bisher wurde allgemein dargelegt, wie man sich den Zusammenhang zwischen Hirnorganik und psychischen Tätigkeiten vorstellen kann. So wurde auf fundamentale Begriffe wie „funktionelle Systeme" oder „dynamische Lokalisation" eingegangen, welche die Basis einer neuropsychologischen Konzeption bilden, die heute noch grundsätzlich nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat.

LURIJAS (1998) zentrale Verarbeitungstheorie spiegelt eine ganzheitliche Sichtweise wider, der es gelingt, einzelne Hirnstrukturen in ihren Zusammenhängen darzustellen, d.h. er geht dabei von der von WYGOTSKIJ begründeten interaktionistischen Sichtweise aus, dass psychische Prozesse (Wahrnehmung, Bewegung, Sprache, Denken etc.) in komplexen funktionellen Systemen verarbeitet werden, die sich keinen eng umschriebenen Hirnregionen zuordnen lassen. LURIJA (1998) differenziert diesen Ansatz weiter und teilt das ZNS in drei grundlegende funktionale Einheiten. Sie sind an jeder Form der psychischen Prozesse in unterschiedlicher Gewichtung beteiligt:

  • Einheit zur Regulation von Tonus, Wachheit und Aktivierung, die für das Grad der Bewusstheit zuständig ist.
  • Einheit zur Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung der Informationen, die von der Außenwelt einströmen.
  • Einheit für Programmierung, Steuerung und Kontrolle psychischer Tätigkeiten.

Keine von ihnen kann alleine für sich aktiv werden, jede liefert vielmehr ihren spezifischen Beitrag zur Funktionsfähigkeit funktioneller Systeme und steht mit den beiden anderen in ständiger Wechselwirkung (GRAICHEN 1981). LURIJAS zentrale Verarbeitungstheorie muss also als Konstrukt oder Modell verstanden werden, deren Elemente der Organisation jeder psychischen Tätigkeit zugrunde liegen.

Für alle drei Einheiten gelten allgemeine Grundsätze, die im Folgenden ihrer Darstellung vorangestellt werden sollen.

7.2.1 Allgemeine Grundsätze

Den Einheiten liegt ein hierarchischer Aufbau zugrunde, der sich v.a. auf die Organisation der Großhirnrinde in kortikale Zonen oder Rindenfelder bezieht, die sich überlagern.

  • das primäre (Projektions-) Feld: es empfängt Impulse aus der Peripherie oder sendet umgekehrt Impulse vom Gehirn in die Peripherie
  • das sekundäre (Projektions- Assoziations-) Feld: hier werden eintreffende Informationen verarbeitet bzw. Programme abgerufen. Es besteht keine direkte Verbindung zur Peripherie
  • das tertiäre (Assoziations-) Feld, das sich aus übergreifenden Zonen zusammensetzt: diese Systeme der Hemisphären haben sich evolutionsgeschichtlich und ontogenetisch zuletzt entwickelt und sind verantwortlich für die komplexesten Formen psychischer Tätigkeiten.

Die spezifischen Aufgaben, die diesen Rindenfeldern zufallen, werden bei der Beschreibung derselben aufgezeigt.

Die Zusammenarbeit der Zonen ist nach LURIJA (1998) von drei Gesetzen bestimmt.

1. Das Gesetz des hierarchischen Aufbaus der kortikalen Bereiche

Die Zonen sind so organisiert, dass jeweils auf den primären Zonen die sekundären und auf diesen wiederum die tertiären Felder hierarchisch aufbauen. Das schließt mit ein, dass sich die sekundären und tertiären Zonen erst dann vollständig entfalten können, wenn die primären entwickelt sind. Die tertiären Felder steuern dagegen im Erwachsenenalter die Funktionen der darunter gelagerten Felder. Dass sich bei einer Beeinträchtigung der niederen Zonen in früheren Entwicklungsstadien auch die höheren kortikalen Zonen nur unvollständig entwickeln können, wurde bereits unter II, 2.1.2 ebenso erwähnt wie die Feststellung, dass bei Verletzungen der unteren Zonen die höheren deren Tätigkeit übernehmen und dadurch kompensieren können.

2. Das Gesetz der abnehmenden Spezifität der hierarchisch angeordneten Zonen

Dieses steht in logischem Zusammenhang mit dem ersten Gesetz. Denn wenn die tertiäre Zone Funktionen der ihr hierarchisch untergeordneten übernehmen kann, dann kann sie nicht in dem Maße auf eine Funktion spezialisiert sein wie das bei den primären Rindenfeldern der Fall ist. Die primären Felder weisen also die höchste Spezifität auf. Dagegen muss die tertiäre Zone integrative und organisierende Arbeit leisten. Das sekundäre Feld liegt in seinem Spezifizierungsgrad dazwischen und nimmt quasi auch eine Vermittlerrolle ein beim Übergang von der Projektion der Impulse auf den primären Rindenfeldern in die funktionelle Organisation der tertiären und umgekehrt. In der Darstellung v.a. der zweiten Einheit wird die Abstufung in der Spezifität noch veranschaulicht.

3. Das Gesetz der zunehmenden Funktionslateralisierung

Dieser Grundsatz bezieht sich auf die unterschiedliche Spezialisierung der beiden Hemisphären des Großhirns.

Im Hinblick auf die neurologische Organisation lassen sich auf der Hirnrindenicht nur Schwerpunkte für die motorische und sensorische (vorne - hinten) Verarbeitung erkennen, sondern auch unterschiedliche Verarbeitungsformen der beiden Hemisphären (links - rechts). Allgemein verarbeitet die linke Hemisphäre Informationen eher analytisch und einzelheitlich, die rechte dagegen eher synthetisch-ganzheitlich.

Innerhalb der primären Felder herrscht jedoch noch keine Hemisphärendominanz vor. Jede Großhirnhälfte ist Ziel von Projektionen der gegenüberliegenden Rezeptoroberfläche.

Eine Lateralisierung ist erst bei den sekundären und tertiären Zonen festzustellen, d.h. diese Felder in der linken (meist dominanten) Hemisphäre übernehmen andere Funktionen als diejenigen in der rechten.

Im Folgenden soll nun genauer auf die einzelnen Einheiten, ihre Aufgaben und ihren Aufbau eingegangen werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine dem besseren Verständnis wegen vereinfachte Darstellung handelt.

Weiterführende Links (zu unterschiedlichen Verarbeitungsformen der beiden Hemisphären):

Dr. Erwin Breitenbach: Neuropsychologische Aspekte von Lernen und Lernstörungen: VII. Weitere wichtige Funktionen und Prinzipien.

7.2.2 Einheit zur Regulation von Tonus, Aktivierung, Wachheit und Bewusstheit

Nach LURIJA (1998) stellt ein optimaler Aktivierungsgrad eine grundlegende Voraussetzung dar, damit psychische Prozesse richtig ablaufen können:

„Nur unter optimalen Wachheitsbedingungen kann der Mensch Informationen aufnehmen und analysieren, die erforderlichen Verbindungssysteme selektiv ansteuern, seine Tätigkeit programmieren, den Verlauf der psychischen Prozesse kontrollieren, Fehler berichtigen und das Handeln lenken" (LURIJA 1998, 40).

Als hirnorganische Strukturen, die an der Regulation von Tonus, Wachheit, Aktivierung und Bewusstheit beteiligt sind, sind tiefere Strukturen des Subkortex und des Hirnstammes, das Zwischenhirnund die medialen Regionen der Hirnrinde zu nennen, vor allem aber die sog. Formatio reticularis, die in den tieferen Schichten des Subkortex und des Hirnstammes lokalisiert ist und durch aufsteigende Bahnen (retikuläres System) in enger Verbindung zum Kortex steht (BROCKHAUS 2000).

Die vom Hirnstamm aufsteigenden Bahnen steuern den kortikalen Tonus, während der Kortex durch die absteigenden Bahnen des retikulären Systems in die entgegengesetzte Richtung laufen und die tieferen Strukturen des Hirnstammes und Thalamus modulieren.

Die Formatio reticularis (FR) bildet das Zentrum komplexer Kreisstrukturen (i. S. eines sich selbstregulierenden Systems), das afferente und efferente Verbindungen zu einzelnen Sinnesmodalitäten, zum limbischen System, Kleinhirn und Neokortex aufweist (BREITENBACH 1996b).

Der Aktivitätsgrad wird somit in der Weise gesteuert und moduliert, wie es gerade erforderlich ist, um eine anstehende Aufgabe, mit der sich der Organismus auseinandersetzen muss, bewältigen zu können. Dies wird durch eine abgestufte (graduelle) Erregungsausbreitung verwirklicht, die sich zwischen den Polen hoher und niedriger Aktivierung bewegt und durch welche die Modulation des gesamten Zustandes der ZNS möglich wird.

Belegt wird das durch eine Reihe von Experimenten, die zeigen, dass bei Reizung der Formatio reticularis (FR) auch eine gesteigerte Erregbarkeit und Wahrnehmungsempfindlichkeit festzustellen ist und im umgekehrten Fall Verletzungen in dieser Region zu einer Herabsetzung des kortikalen Tonus bis hin zum komatösen Schlaf führen können (LURIJA 1998).

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass eine gewisse Grundaktivität des Nervensystems selbst notwendig ist für die Aufrechterhaltung jeglicher Lebensaktivität des Organismus (MILZ 1996). Doch diese Aktivität reicht oft nicht aus und muss deshalb zusätzlich angehoben werden. Deshalb beteiligen sich darüber hinaus drei über die FR vermittelte Aktivierungsquellen daran, das Aktivierungsniveau des Organismus der Situation entsprechend zu regulieren und so adäquates Handeln in der Situation zu ermöglichen.

Für diese Grundformen der Aktivierung sind jeweils unterschiedliche Teile der FR verantwortlich (LURIJA 1998).

  • Die erste und einfachste Form der Aktivierung ist auf die Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichtes (Homöostase) und Bedürfnisbefriedigung ausgelegt. So können Stoffwechselprozesse wie Verdauung oder Atmung und hormonelle Prozesse eine Erhöhung des Tonus notwendig machen. Hierin fällt auch die Regulation des Wach-Schlafrhythmus.
  • Die zweite Ursache der Aktivierung ist in Verbindung mit Signalen aus der Umwelt und aus dem körperlichen Erlebenzu verstehen, die ununterbrochen auf den Menschen einströmen.
  • Das Eintreffen von Reizen aus der Umwelt erhöht das Aktivierungsniveau. Dadurch findet man sich in der Umwelt zurecht und kann entsprechend aktiv reagieren. In diesem Zusammenhang sind z. B. auch soziale Antriebsquellen wie soziale Anpassung, Kommunikationsbedürfnis, Hilfsbereitschaft, Machtstreben, etc. zu nennen (BREITENBACH 1996b).
  • Entsprechend bereitet es vor unerwarteten Überraschungen oder Gefahren im Sinne unbekannter Reize vor. Einströmende Reize werden grundsätzlich mit bereits bekannten aus dem Gedächtnis auf ihren Neuheitswert, ihre Gefährlichkeit oder auch Unsinnigkeit hin mit schon gespeicherten Erfahrungen verglichen, es findet also eine Verbindung zwischen Gedächtnis und FR statt. Bei Meldung unbekannter Reize wird ein sog. Orientierungsreflexausgelöst, der die Aktivität des Gehirns tonisch anhebt, wodurch ein adäquates Reagieren auf Neues möglich wird. 
  • Die dritte Aktivierungsquelle, aus der heraus sich menschliche Tätigkeit aktiviert, ist die der Pläne, Programme und Absichten, die während des bewussten Erlebens gefasst werden. Das heißt, jede durch Sprache formulierte Absicht setzt ein bestimmtes Ziel voraus und aktiviert ein Handlungsprogramm zum Erreichen desselben.

Alle drei Quellen der Aktivierung stehen zueinander in einem situativ-dynamischen Balancesystem, d.h. sie spielen je nach Situation mit unterschiedlicher Gewichtung zusammen. Keine von ihnen wird dabei völlig ausgeschaltet, sie ordnen sich lediglich unter (GRAICHEN 1979).

So ist z. B. beim Schreiben dieser Arbeit in erster Linie die dritte Quelle aktiviert mit der Absicht, jene fertig zu stellen, jedoch meldet die erste von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach einer Regulierung des Zuckerhaushaltes und der Wunsch nach Schokolade entsteht. Stürzt der Computer ab, so hebt die zweite Quelle meinen kortikalen Tonus und ich gerate in Panik.

Zentrale Aufgabe der ersten funktionellen Einheit ist demnach eine allgemeine Oberprogramm- und Verhaltenssteuerung des Organismus, die als Instanz die für komplexe Anpassungsleistungen erforderlichen Subsysteme auswählt und zusammenschließt. In die Entscheidung, welches Verhaltensoberprogramm momentan am wichtigsten ist, fließen alle persönlichen, organismischen und situativen Bedingungen „im ständigen Situationsfluss des Lebens" (BREITENBACH 1996b, 410) mit ein.

Das Gehirn wird dabei graduell aktiviert, womit versucht wird ein optimales Aktivierungsniveau bereitzustellen, das zur Bewältigung der jeweiligen Aufgabe nötig ist (BREITENBACH 1996a).

Bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen liegen die Schwierigkeiten mitunter daran, dass die Oberprogramm- und Verhaltenssteuerung diese Entscheidungen nicht treffen kann, sondern vielmehr ein Programm vom anderen ständig abgelöst wird (BREITENBACH 1992).

7.2.3 Einheit zur Aufnahme, Analyse und Speicherung von Information

Die Funktionen des zweiten Blocks gestalten sich spezifischer als die des ersten und sind v.a. für Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen zuständig, die als Reize von den Sinnesorganen zum Gehirn gelangen.

Lage der zweiten Einheit

Hirnorganisch betrachtet befinden sich die Gebiete dieser Einheit vorwiegend in den lateralen Regionen der gewölbten Oberfläche der beiden Hemisphären jenseits der Zentralfurche, die den Okzipital-, den Temporal- und den Parietallappen umfassen (LURIJA 1998). Dabei sind die okzipitalen Regionen vorwiegend auf visuelle Informationen, die temporalen Regionen auf auditive und die parietalen auf allgemein sensorische Informationen spezialisiert.

Hinsichtlich des histologischen Aufbaus lässt sich die zweite Einheit von der ersten unterscheiden. Denn während die erste als unspezifisches neuronales Netz organisiert ist und dadurch in der Lage ist, ein System graduell zu aktivieren, ist die zweite aus isolierten Neuronen aufgebaut, die nach dem sog. Alles-oder-Nichts-Prinzip arbeiten. Das heißt sie können bei der Informationsverarbeitung nur über richtig oder falsch entscheiden und diese Information an andere Neuronen weiterleiten (GRAICHEN 1981).

Organisation und Funktion der zweiten Einheit

Die primären (Projektions-) Felder der somatosensorischen Hirnrinde bilden die Grundlage der zweiten Einheit. Sie weisen (dem zweiten Gesetz zufolge) eine enge modale Spezifität auf, d.h. es gibt für visuelle, akustische und allgemein sensorischen Reize jeweils spezialisierte Projektionsfelder. Die Neuronen dieser Zonen sind speziell darauf ausgerichtet, um z. B. nur auf bestimmte Eigenschaften von visuellen Reizen (Farbtöne, Bewegungsrichtung etc.) differenziert zu reagieren und die Reize in viele kleinste Einzelteile zu zerlegen.

Allgemein werden primäre Felder, in denen bestimmte Teile des Informationsflusses eintreten bzw. - wie wir später sehen werden - austreten als modale Rindenfelder bezeichnet (OESER/ SEITELBERGER 1995).

Die sekundären kortikalen Felder verknüpfen die aus den primären Rindenfeldern eintreffenden sinnspezifischen Reize assoziativ zu Mustern. Deshalb heißt diese Zone auch Projektions- Assoziationsfeld und trägt dazu bei, dass Reize als Ganzes erkannt und verarbeitet werden und zwar als visueller, akustischer oder allgemein sensorischer Reiz.

Bei der Erkenntnistätigkeit spielt aber nie nur eine Sinnesart eine Rolle, sondern wird im Zusammenspiel aller zu einem „vielschichtigen Ereignis" (LURIJA 1998, 70). Damit kommt diesen wie auch den tertiären Feldern eine synthetisierende Funktion zu.

In den tertiären Zonen, dem kompliziertesten Gebilde der zweiten Einheit, überlappen sich die kortikalen Endstücke der verschiedenen Analysatoren. Unter Analysator ist hier allgemein das Informationsverarbeitungssystem der Großhirnrinde gemeint, das die eintreffenden Reize analysiert (DORSCH 1998). In diesem Zusammenhang werden die tertiären Felder auch Endanalysatoren genannt. Sie sind sehr verletzlich und kleine Störungen können sie deshalb leicht außer Funktion setzen.

Diese Überlappungszonen der Analysatoren nehmen ca. 43% der Gesamtmasse des Kortex ein, was wiederum Rückschlüsse auf die Bedeutung der integrativen Funktionen für menschliche Tätigkeiten zulässt (DORNETTE 1981).

Die Areale der tertiären Zonen befinden sich an der Grenze von Hinterhaupt-, Scheitel- und Schläfenregion.

Sie integrieren die aus den verschiedenen sekundären Zonen eintreffenden Erregungen, organisieren sie im Raum und wandeln die sukzessiv (nacheinander) eintreffenden Reize in simultane (gleichzeitige) Reize um, so dass sie ganzheitlich wahrgenommen werden (LURIJA 1998). Da die Neuronen der dritten Zone Informationen aus verschiedenen Modalitäten wie z.B. aus visuellen, taktil-motorischen oder audio-vestibulären Teilen des Gehirns, integrieren, können sie nicht als modalitätsspezifisch, sondern müssen vielmehr als supramodal angesehen werden im Sinne einer höheren Wahrnehmungsverarbeitung. Wegen der dadurch geleisteten Assoziationsleistung nennt man diese Zonen auch Assoziationsfelder, die unabhängig von der direkten Projektion arbeiten.

Neben der integrativen Funktion spielen diese Zonen auch eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von konkreter Wahrnehmung in abstraktes Denken (Übergang von konkreten zu symbolischen Prozessen) von und beim Behalten organisierter Erfahrung (Speicherung von Informationen).

Veranschaulichung an einem Beispiel

Die Vorgänge der zweiten Einheit sollen vereinfacht am Beispiel der akustischen Wahrnehmung, der Analyse und Synthese akustischer Information, veranschaulicht werden.

Die primären Hörfelder des Temporallappens liegen in der sog. Heschl-Hirnwindung in der Umgebung der Sylvischen Furche (LURIJA 1998). Sie reagieren dem Grundgesetz der Spezifität entsprechend nur auf spezifische Eigenschaften akustischer Reize, die von der Schnecke des Innenohres über die Hörbahn in die Rindenregionen gelangen.

Die sekundären Zonen liegen an den lateralen Seiten der temporalen Schläfenregion. Ihre Aufgabe ist es, auditive Impulse in ihre funktionelle Organisation umzusetzen. Das heißt, hier findet die Umwandlung des Reizes in Laut- und Geräuschempfindungen statt (ROHEN 1985). Dieses spezielle Gebiet wird auch Wernicke-Zentrumgenannt und ist grundsätzlich für das Verstehen sprachlicher Äußerungen zuständig. Verletzungen in diesem Bereich haben weitläufige Beeinträchtigungen zur Folge wie z.B. Minderung des Sprachverständnisses, Störung des Wortgedächtnisses, Schwierigkeiten beim Schreiben usw.. Das Störungsbild ist als sensorische Aphasie bekannt.

7.2.4 Einheit zur Programmierung, Regulation und Ausführung von Aktivitäten

Einen weiteren Aspekt kognitiver Prozesse beim Menschen neben der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen stellt die Organisation bewusster Tätigkeiten dar (LURIJA 1998). Dafür ist nunmehr die dritte funktionale Einheit des Gehirns zuständig, welche die Funktionen der Programmierung, Steuerung und Kontrolle von Tätigkeiten übernimmt. Sie hat also etwas mit der motorischen Ausführung psychischer Prozesse zu tun. Diese Ausführung darf jedoch nicht als ein passives Reagieren auf einfließende Informationen betrachtet werden, sondern als ein aktives Handeln des Menschen aufgrund seiner Pläne und Programme. Bei der Durchführung wird kontrolliert, ob die Handlung mit dem Handlungsplan übereinstimmt, worauf mögliche Fehler korrigiert werden.

Lage der dritten Einheit

Der gesamte vordere Bereich des Kortex, also der Frontallappen, der durch die Zentralfurche von den anderen Gebieten abgrenzbar ist, kann der dritten Einheit zugeordnet werden.

Er nimmt ca. ein Viertel der Gesamthemisphärenmasse ein (LURIJA 1998). Die primären Zonen liegen dabei direkt vor der Zentralfurche an der motorischen Rinde. Dieses Gebiet wird wegen seiner Lage Gyrus praecentralis (Windung vor der Zentralfurche) genannt und fungiert als motorisches Projektionsfeld.

Die sekundären Zonen dieser letzten Einheit liegen in den prämotorischen Feldern der Stirnhirnregion, d.h. sie schließen unmittelbar an den sog. Gyrus praecentralis an. Hier hinein fällt auch das motorische Sprachzentrum das sog. Broca-Areal, von dem aus das Bewegungsprogramm für alle am Sprechen beteiligten Muskeln an die primären motorischen Zentren übermittelt werden.

Die tertiären Abschnitte finden sich im sog. präfrontalen Abschnitt der Stirnlappen. Sie stehen nicht nur mit allen anderen Hauptzonen des Kortex in Wechselbeziehung, sondern verfügen auch über gut entwickelte Nervenbündel, die in auf- und absteigenden Fasern mit der Formatio reticularis verbunden sind.

Organisation und Funktion

Auch diese dritte Einheit ist wie die zweite durch einen hierarchischen Aufbau von primären, sekundären und tertiären Zonen gekennzeichnet. Doch hinsichtlich ihrer Organisationsweise besteht ein Unterschied zur zweiten Einheit. Dort erfolgen, wie oben gezeigt, die Prozesse von den primären über die sekundären zu den tertiären Zonen. In der dritten Einheit verlaufen sie jedoch umgekehrt (MILZ 1996). Das motorische Programm wird in den tertiären und sekundären Zonen vorbereitet und von der primären Struktur aus als Impulse in die Peripheriegeleitet. Man spricht dabei auch von der primären Zone als Ausgangskanal oder Ausgangspforte für motorische Impulse.

Die sekundären Felder stellen hierzu die motorischen Programme zusammen. Dies geschieht auch mit Hilfe schon erworbener Erinnerungsbilder, sprich gespeicherter Bewegungsmuster. Auch steuern sie Bewegungsplanung und Antrieb.

Die tertiären Zonen sind schließlich an der Entstehung von Programmen und Absichten beteiligt und steuern und kontrollieren komplexe Verhaltensweisen des Menschen (LURIJA 1998). Ihnen kommt eine übergeordnete Aufgabe zu, da sie im Gegensatz zu den tertiären Zonen der zweiten Einheit mit allen Teilen des Kortex sowie der FR verbunden und deshalb in der Lage sind, komplexe afferenteImpulse aus allen Teilen des Gehirns aufzunehmen und in der Synthese zu verknüpfen. Das heißt, dass sich v.a. FR und tertiäre Zone wechselseitig beeinflussen können. Die dritte Einheit weist deshalb auch keine modalitätsspezifischen Zonen wie die zweite auf, sondern muss allgemein als efferente motorische funktionelle Einheit begriffen werden.

Die tertiäre Zone der dritten Einheit entwickelt sich in der Ontogenese relativ spät und ist erst zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr voll funktionsfähig (MILZ 1996). Das hat auf der Verhaltensebene zur Folge, dass ein Kind erst dann seine Aufmerksamkeit in vollem Umfang steuern kann. Vorher lässt es sich noch leicht von irrelevanten Reizen ablenken. Diese Erkenntnis hat pädagogische Relevanz und muss berücksichtigt werden.

7.2.5 Zusammenspiel der drei funktionalen Einheiten

Die Theorie LURIJAS (1998) von den drei funktionalen Einheiten versucht darzulegen, wie man sich die Organisation komplexer psychischer Tätigkeit im Gehirn vorstellen kann. Nun darf man allerdings nicht in den Irrglauben verfallen, diese Einheiten könnten jeweils unabhängig voneinander aktiv werden, so dass also die dritte Einheit für Motorik und Handlungsaufbau zuständig wäre, die zweite für alles Empfindungsmäßige, also Wahrnehmung und Denken etc.. Dies widerspräche LURIJAS Denken in funktionellen Systemen. Vielmehr ist jede Form bewusster Tätigkeit durch die Zusammenarbeit aller drei Einheiten verwirklicht. So hat der Prozess Wahrnehmung motorische Komponenten wie auch Willkürbewegungen nicht nur durch efferente motorische Impulse gesteuert werden, sondern auch auf den Zufluss afferenter Impulse angewiesen sind.

GRAICHEN (1981) verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Funktionen der zweiten Einheit nicht mit der „Wahrnehmung" als psychisches Geschehen verwechselt werden dürfen. Denn ohne Berücksichtigung der ersten Einheit würde es sich dabei lediglich um eine Datenaufnahme handeln,

  • „...ein passives Sichbeeindruckenlassen durch bestimmte ein für allemal festgelegte Reizdimension, wie dies bei einem Computer geschieht, der hierfür vorprogrammiert und in einem bestimmten Moment eingeschaltet werden muss und der seine Tätigkeit beim 12. Mal unverändert gegenüber dem ersten Vorgang ausführt" (GRAICHEN 1981, 287)

Wahrnehmung muss vielmehr begriffen werden als eine aktive und autonom-selektive Informationsaufnahme und -verarbeitung des Subjektes, und zwar unter Beteiligung aller funktionalen Hirneinheiten, aber immer auch in Bezug zum sozialen Kontext des Individuums, seiner momentanen Gesamtsituation und seinem Repertoire an Erfahrung (SPECK 1989).

GRAICHEN (1981) hebt hierbei v.a. den bedeutsamen integrativen Beitrag der ersten Einheit zur Aktivität hervor. Verfolgt man den Gedanken weiter, so kann folglich auch eine Wahrnehmungsstörung nicht nur auf Prozesse von Aufnahme, Analyse und Speicherung reduziert werden.

Diese Vorstellung vom Aufbau psychischer Prozesse beruht nach LURIJA (1998) auf dem Modell eines „selbstgesteuerten" oder „selbstregulierten" Systems, das selbst eine Auswahl seiner funktionellen Systeme trifft, diese aufbaut und stabilisiert.

PICKENHAIN (1994) sieht in der LURIJAschen Vorstellung der Selbstorganisation auch die Vorwegnahme der Gedanken, die sich später in der Systemtheorie von MANTURANA/ VARELA (1987) wiederfinden, die vom Organismus als ein selbstreferenzielles System sprechen.

Dass die Einheiten nicht losgelöst voneinander, sondern in Wechselwirkung arbeiten, zeigt auch die von BRAND et al. (1988) dargestellte enge Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewegung schon in der Entwicklung. So steuert die Wahrnehmung im Verlauf der Entwicklung zunehmend die Bewegung (z. B. beim gezielten Greifen), während letztere wiederum notwendig ist, damit sich zwei wesentliche Phänomene der Wahrnehmung ausprägen können: die Wahrnehmungskonstanz und die Figur-Grundwahrnehmung.

So scheint es die zentrale Aufgabe des ZNS zu sein, viele Subsysteme zu größeren Gesamtsystemen schnell und korrekt zu integrieren (BREITENBACH 1992).

LURIJA (1998) hebt dabei den zentralen Gesichtspunkt hervor, dass nur das Studium dieser Wechselbeziehungen es ermöglicht, in die Natur der zerebralen Mechanismen (der Hirnebene) psychischer Tätigkeiten zu blicken.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R. (1998): Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek

 

7.3 Einheit der emotionalen und motivationalen Regulation nach JANTZEN

JANTZEN ergänzt die drei funktionalen Einheiten nach LURIJA durch eine vierte, die den Bereich der Emotionen und der Motivation mit in das Geschehen einbezieht. Er nennt sie „regulatorische Einheit für spezifische Aktivierung und Koordination von Planung, Information, Aktivation, Körperregulation" (JANTZEN 1990, 74).

Sie soll dem Umstand Rechnung tragen, dass emotionale Gestimmtheit oder das Lust-/ Unlustempfinden großen Anteil an verhaltenssteuernden Vorgängen haben. So sind kognitive, emotionale und motivationale Prozesse bei fast jeder psychischen Tätigkeit untrennbar miteinander verbunden (EDELMANN 1996).

Die Neuropsychologie der Emotionen war zu Zeiten LURIJAS (1998) noch wenig erforscht und erfährt erst in jüngster Zeit steigendes Interesse. Die Ergänzung kann zudem nur im Interesse LURIJAS sein, der die Neuropsychologie als junge Wissenschaft ansieht, die sich ständig gemäß ihren Möglichkeiten weiterentwickeln muss.

 

7.3.1 Emotion und Motivation

Beide Begriffe, Emotion und Motivation, verweisen von ihrem lateinischen Ursprung her auf Bewegung, entweder körperlich auf ein Ziel zu bzw. von einem aversiven Reiz weg, oder innerlich durch Situationen von psychologischer Bedeutung (ZIMBARDO 1992). Dabei geht man davon aus, dass Emotionen die Funktion haben, einen Organismus darauf vorzubereiten und zu motivieren, dass er die Anforderungen seiner Umwelt bewältigen kann. Insofern spielt diese vierte Einheit eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Frage nach dem WARUM psychischer Tätigkeiten, während LURIJA nach dem WIE ihrer Organisation sucht.

Dieses Gebiet ist jedoch ein weites Feld, das auch deshalb schwer fassbar ist, da es stark subjektiv besetzt ist, d.h. Reaktionen auf Situationen immer unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob sie für das Individuum bedeutsam sind.

Emotion ist demnach

  • „ein komplexes Muster von Veränderungen (...), das physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Verhaltensweisen mit einschließt, die in Reaktion auf eine Situation auftreten, welche ein Individuum als persönlich bedeutsam wahrgenommen hat"

(KLEINGINNA/KLEINGINNA 1981; zit. n. ZIMBARDO 1992, 380).

Mit Motivation meint man alle Bedingungen, welche die Aktivitäten eines Organismus ankurbeln und die Variation dieser Aktivitäten nach Richtung, Quantität und Intensität bestimmt (Vorlesungsmitschrift, SCHNEIDER, W.: „Lernpsychologie").

Beiden Bereichen kommt in der Psychologie mittlerweile v.a. im Hinblick auf Bedingungen des Lernens große Bedeutung zu.

Aus neuropsychologischer Sicht hebt JANTZEN (1990) die Komponenten als vierte Einheit i.S. einer Ergänzung der Theorie LURIJAS hervor.

 

7.3.2 Das Limbische System

Auf hirnorganischer Ebene ist der Bereich, der sowohl für spezifische Gedächtnisausfälle als auch für dramatische emotionale Verhaltensänderungen verantwortlich ist, v.a. im limbischen System lokalisiert, dessen Nervenkerne für Emotionalität und Motivation von großer Bedeutung sind (MILZ 1996).

Auch ein Grund dafür, dass diese Strukturen immer noch wenig erforscht sind, ist in dessen Lage zu sehen, die schwerer zugänglich ist als die des Neokortex. Das limbische System liegt ringförmig in den tieferen und somit älteren Strukturen des Gehirns und weist starke Verknüpfungen mit Teilen des Hypothalamus, des Thalamus und der Großhirnrinde auf (JANTZEN 1990).

Die wichtigsten Teile des limbischen Systems stellen der Hypothalamus, der Hippocampus und die Amygdala, die Mandelkerne, dar (ZIMBARDO 1992). Ihre Funktionen bestehen grundsätzlich darin, sowohl hormonelle als auch neurale Aspekte der Erregung zu steuern.

JANTZEN (1990) begreift das limbische System von funktioneller Seite her als stufenweises Vermittlungssystem von Bedürfnissen und Umweltgegebenheiten. Dabei ist es verantwortlich für die Herausbildung einer emotional-motivationalen Gerichtetheit, die JANTZEN „Modelle des Künftigen" nennt, da Emotion und Motivation zukünftige Tätigkeiten mit beeinflussen und wesentliche Anteile an Plänen und Absichten mittragen.

Auf der Grundlage der Arbeiten von PRIBRAM (1981) zeigt JANTZEN (1990) drei funktionelle Systeme innerhalb des limbischen Systems auf, die entscheidend an der Aktivierung und Regulation von Motivation und Emotion beteiligt sind:

  • die emotionale, phasische, kurzfristige Aktivation. Sie erfolgt über den Amygdala-Komplex (Mandelkerne) und wirkt initiierend oder vermeidend auf Verhalten.
  • die tonische längerfristige motivationale Aktivation. Sie wird über das System der Basalganglien realisiert. Man nimmt an, dass dieses System ein „Aktivations-Set" beinhaltet für das jeweils dominierende Motiv. Auf dieser Basis wird das „Modell des Künftigen" programmiert.
  • das Vermittlungssystem zwischen tonischer und phasischer Regulation. Dieses wird als Neuigkeitsverarbeitung angesehen, die über den Hippocampus reguliert wird. Hier wird zwischen System 1 und 2 vermittelt, d.h. es werden die Handlungsalternativen bereitgestellt.

Emotion und Motivation wirken dementsprechend in gewisser Weise als selektive Filter, die hemmende oder aktivierende Funktionen für kognitives Lernen haben. Das heißt auch, dass emotionale und motivationale Aspekte Lernprozesse in entscheidender Weise mitbestimmen. Es gilt als erwiesen, dass mit Freude am Lernen und positiver Motivation besser gelernt werden kann, v.a. auch wenn das zu Lernende für den Lerner Sinn macht.

Weiterführende Literatur:

  • Jantzen, W. (1990): Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd. 2: Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim/ Basel. 103 - 118
  • Pribram, K. H. (1981): Emotions. In: Filskov, S. B./Boll, T. J. (Hrsg.): Handbook of Clinical Psychology. New York. 102 - 134
  • Zimbardo, P. (1992): Psychologie. Berlin/ Heidelberg/New York. 344 - 397

 

7.4 Zusammenfassung

  • Höhere psychische Prozesse laufen beim Menschen auf der Basis komplexer funktioneller Systeme ab, an deren Aufbau verschiedene (spezialisierte) Hirnbereiche beteiligt sind.
  • Wird eine Aufgabe an den Organismus gestellt, schließen sich Subsysteme zu einem funktionellen System zusammen. Während die Aufgabenstellung und das Ziel gleich bleibt, können die Teilglieder innerhalb eines funktionellen Systems wechseln, d.h. der Weg kann auf unterschiedliche Weise bewältigt werden. Wenn eine Teilleistung gestört ist und nicht durch eine andere ersetzt werden kann, misslingt die momentane Anpassung an die Aufgabe, die dem Organismus gestellt wurde.
  • Alle Teilglieder sind polyvalent. Sie sind nicht nur an der Konstellation eines bestimmten funktionellen Systems beteiligt, sondern auch in andere Systeme integriert.
  • Funktionelle Systeme sind dabei nicht an spezifische zerebrale Areale gebunden und in diesem Sinne auch nicht in eng umschriebenen Gehirnregionen streng lokalisierbar. Sowohl aus Sicht ihrer Beschaffenheit als auch der Entwicklung funktioneller Systeme muss von einer dynamischen Lokalisation ausgegangen werden. F. S. sind demzufolge nicht statisch und konstant, sondern zu Veränderungen fähig und damit auch entwicklungs- und lernfähig.
  • Um analysieren zu können, aus welchen Subsystemen sich funktionelle Systeme zusammensetzen und wie sie mit anderen zusammenhängen, nähert sich die Neuropsychologie in ihrer Hauptmethode über den umgekehrten Weg an: der Untersuchung von durch Zerstörung bedingten Veränderungen psychischer Prozesse, die Rückschlüsse über den normalen Aufbau geben.
  • LURIJA gliedert in seiner zentralen Verarbeitungstheorie das ZNS in drei Einheiten, deren Funktionen an jeder psychischen Tätigkeit beteiligt sind: 
    1. Einheit zur Regulation von Tonus, Aktivierung und Bewusstheit
    2. Einheit zur Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von Informationen
    3. Einheit zur Programmierung, Steuerung und Kontrolle psychischer Tätigkeiten
  • Diese sind nach allgemeinen Grundsätzen organisiert. Die an den Einheiten beteiligten kortikalen Zonen sind hierarchisch aufgebaut. Mit zunehmender Hierarchie nimmt die Spezifität der Zonen ab und die Funktionslateralisierung bzgl. der beiden Hemisphären zu.
  • Eine wichtige hirnorganische Struktur der ersten Einheit stellt die Formatio reticularis (FR) dar, die durch aufsteigende Bahnen mit dem Kortex verbunden ist und das Aktivierungsniveau des Organismus mit reguliert. Aktivierungsquellen stellen dabei Stoffwechsel- und Hormonprozesse, Signale aus der Umwelt und Pläne und Programme des Einzelnen dar.
  • An der zweiten Einheit ist v.a. der hintere Teil des Neokortex beteiligt, der Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen umfasst. Die Zusammenarbeit der hierarchisch organisierten Rindenfelder gewährleistet die Aufgabenbewältigung der zweiten Einheit.
  • In die dritte Einheit fallen diejenigen Bereiche des ZNS, die an der motorischen Ausführung beteiligt sind. Damit ist das motorische Projektionsfeld (primäre Zone) und das Stirnhirn (tertiäre Zone) im Bereich des Frontallappens gemeint. Dem Stirnhirn kommt dabei aufgrund seiner vielfältigen Verbindungen u.a. zur FR eine übergeordnete Rolle zu.
  • An jeder Form bewusster Tätigkeiten arbeiten die drei funktionalen Einheiten zusammen. So ist Wahrnehmung als äußerst komplexer Vorgang und in enger Verbindung zu Bewegung zu betrachten, der nicht nur innerhalb einer Einheit bzw. einem Niveau ablaufen kann, sondern als aktiver, auf allen Stufen gleichzeitig ablaufender Prozess betrachtet werden muss.
  • JANTZEN erweitert diese zentrale Verarbeitungstheorie um die Komponenten der Emotion und Motivation, die psychische Tätigkeiten wesentlich mitbedingen und hemmend oder aktivierend auf Lernprozesse wirken.
  • Die dafür aus neuropsychologischer Sicht verantwortliche Hirnstruktur ist im sog. limbischen System zu finden, das sich ringförmig in den tieferen Schichten des Gehirns „versteckt" und engen Kontakt zu FR, Hirnstamm und Neokortex hat. Ereignisse aus der Umwelt erhalten hier ihre emotionale Färbung und werden dadurch bewertet.

 

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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