Mozart und das Tourette-Syndrom

Hatte Mozart die "Gilles-de-la-Tourette'sche Erkrankung"?

"Ich scheiße schon 20 Jahre aus dem nämlichen Loch und ist doch noch nicht verrissen".

Manch einem dürften dieser Satz sowie Sätze ähnlichen Inhalts aus der zwischen 1771 und 1781 entstandenen und unter dem Namen „Bäsle-Briefe" bekannt gewordenen Korrespondenz Mozarts mit seiner Cousine Maria Anna Thekla Mozart bekannt sein. Diese Briefe skizzieren aufgrund ihrer derben Sprache ein Bild des Musikgenies, das in hohem Maße irritiert. Auch in den bisher über elftausend erschienenen Publikationen über Mozart ist das Rätsel dieser Persönlichkeitsvariante nicht ausreichend entschlüsselt worden. Alfred Einstein, einer der Mozartbiographen, umgeht das Problem mit der lapidaren Feststellung, daß er "vieles am Menschen Mozart bedauerlich und befremdlich erlebt". Ein weiterer bedeutender Mozart-Biograph, Wolfgang Hildesheimer, bezeichnet Mozarts Eigenart als "die grimmige Lust am Absurden". An anderer Stelle bewertet er Mozarts Verhalten als "eine eigentümliche Form der Infantilität" und deutet „die Mozart'schen Wortphantasien als zwanghafte Lust und Leichtigkeit des Assoziierens und als Fähigkeit mit disparaten und scheinbar willkürlichen Lautkombinationen Euphonie und Rhythmus in einer Art zu erzeugen die nicht direkt erschließbar ist".

Aus ärztlicher Sicht ließe sich hierfür durchaus eine Erklärung finden: Mozart könnte das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom gehabt haben. Dieser Gedanke wurde erstmals von dem dänischen Neurologen und Psychiater Rasmus Fog in einer medizinischen Fachzeitschrift publiziert. Welche Fakten sprechen für die Fog'sche Idee? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst einmal auf das Krankheitsbild der Gilles-de-la-Tourett'schen Erkrankung einzugehen:

1885 beschrieb der französische Internist Gilles-de-la-Tourette "une affection nerveuse charactéristique par l'incoordination motrice, accompagnée d'echolalie et de coprolalie", d.h. eine nervale Erkrankung, charakterisiert durch eine Störung der Motorik und begleitet von den Phänomenen der Echolalie und der Coprolalie. 
Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom beginnt meist bereits in der Kindheit oder Adoleszenz zunächst mit umschriebenen Tics, die mit dem Fortschreiten der Krankheit gehäuft auftreten und sich auf die gesamte Körpermuskulatur ausdehnen können. Dabei entstehen teilweise groteske Bilder: die Betroffenen zeigen z.B. ein unentwegtes Blinzeln und/oder ein bizzares Grimassieren, das auch mit einem Hervorstrecken der Zunge verbundensein kann. Vokale Tics, Schluck- und Atemtics treten hinzu; oft werden unartikulierte Laute ausgestoßen: die Betroffenen beginnen zu grunzen, sich zu räuspern, bellen, miauen, schnaufen, schmatzen oder schnüffeln und vollführen viele ähnliche motorische oder mimische Mechanismen. Das Umherfahren der Arme, Zucken der Schultern und Wenden des Kopfes wird von stampfenden, springenden, hüpfenden oder tanzenden Schritten begleitet. Zunehmend entwickelt sich ein zwanghafter Drang, Bewegungen nachzuahmen oder Beschimpfungen und obszöne Worte sowie Schreie auszustoßen (Koprolalie). Mitunter werden von der Umgebung aufgenommene oder selbst geäusserte Worte - manchmal auch rhythmisch - wiederholt (Echolalie). Die Intensität dieser Erscheinungen kann stark wechseln; gelegentlich ist eine gewisse Periodizität zu erkennen. Die Tics lassen sich nur kurzzeitig willentlich unterdrücken und sistieren im Schlaf.

Die Gilles-de-la-Tourett'sche Erkrankung geht nicht mit einem psychischen oder intellektuellen Abbau einher und beeinträchtigt in der Regel auch nicht die Lebenserwartung. Der heutige medizinische Wissensstand ermöglicht es aber leider noch nicht, diese Erkrankung mittels apparativer Technik nachzuweisen. Bisherige pathologisch-anatomische Befunde lassen zum Teil Veränderungen in den Basalganglien des Gehirns erkennen. Der Neurotransmitter "Dopamin", der ja bekanntlich eine bedeutende Rolle bei der Parkinson'schen Erkrankung spielt, könnte auch bei der Gilles-de-la-Tourett'schen Erkrankung von kausaler Bedeutung sein, denn Medikamente, welche die Wirkung des Dopamins blockieren, vermögen medizinischen Erfahrungen zufolge auch einen Teil der Symptome der Gille-de-la-Tourett'schen Erkrankung zu mildern.

Die bisherigen medizinischen Erkenntnisse erlauben zumindest den Rückschluß, daß es sich um eine organische Erkrankung handelt, auch wenn deren Ursache noch im Dunkeln liegt. Denkbar wäre beispielsweise eine Schädigung des Gehirns während der Geburtsphase oder infolge einer Erkrankung in der frühen Kindheit. Mag das Gilles-de-la-Tourette-Syndroms insgesamt gesehen auch recht selten sein, so muß man doch bedenken, daß es vermutlich viel zu selten diagnostiziert wird, weil man in Unkenntnis dieser Erkrankung zunächst einmal geneigt sein wird, die geschilderten Symptome ganz schlicht als Unsitte, Abartigkeit und "schlechtes Benehmen" einzuordnen. Rasmus Fog jedenfalls vermutete im Rahmen seiner auf Dänemark ausgelegten Exploration eine Prävalenz bzw. Krankheitshäufigkeit von ca. tausend Erkrankungen bei etwa 5 Millionen Einwohnern. 

 

Was spricht nun für die Hypothese, daß auch Mozart am Gilles-de-la-Tourette-Syndrom erkrankt gewesen sein könnte? Aufschluss über die bei Mozart möglicherweise vorliegenden Symptome geben Textstellen aus Mozart's Briefen sowie mündliche Wiedergaben und schriftliche Berichte seiner Bekannten und Zeitgenossen:

So wird der für das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom so typische Drang zu Beschimpfungen in einem Brief an das „Bäsle" Maria Anna Thekla deutlich, in dem Mozart eine ganze Kanonade von Beschimpfungen losläßt, weil das Bäsle ihm noch nicht das versprochene Konterfei zugeschickt hat:

"Potz Himmel tausend sakristey, Croaten schwere noth, Teufel, Hexen, truden, kreuz-Battalion und kein End, Potz Element, Luft, Wasser, erd und feuer, Europa, asia, affrica und America, jesuiter, Augustiner, Benedictiner, Capuziner, minoriten, franziskaner, Dominikaner, Chartheuser und Heiligkreuzer Herrn, Canonici Regulares und irregulares, und Bärenhäuter, Spitzbuben, Hundsfütter, Cujonen und schwäntz übereinander, Eseln, büffeln, ochsen, Narrn, Dalken und fuxen! was ist das für eine Manier, 4 soldaten und 3 Bandalier ? - so ein Paquet und kein Portrait."

Mozarts Vorliebe für Obszönitäten und Fäkalsprache, die auf das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom hindeutet, zeigt sich in zahlreichen Beispielen, von denen nur einige wenige im Folgenden zitiert sein sollen: 
- So schreibt Mozart in einem Brief an seine Mutter im Januar 1778 aus Worms:

„Nir sind jetzt über acht Tage weck und haben schon geschissen vielen Dreck, dafür wage Zukunftspläne, und das Konzert spar ich mir nach Paris, dort schmier ich's her, gleich auf den ersten Schiß."


- Nach einer Auseinandersetzung mit seiner Angebeteten Aloisia Weber, die sein Werben abblitzen ließ, soll Mozart sich Überlieferungen zufolge ans Klavier gesetzt und gesungen haben:

"Leck mich das Mensch im Arsch, das mich nicht will".


- Ein Brief an seinen Vater im Jahre 1777 schließt mit folgender Sequenz:

"Nun adio, ich küsse dem Papa nochmahlen die Hände und meine Schwester umarme ich und allen guten Freunden und Freundinnen empfehle ich mich und auf das Heisel nun begib ich mich, und einen Dreck vielleicht scheiße ich und der nämliche Narr bleibe ich Wolfgang Amadeus Mozartisch. Augsburg, den 25. Oktobrisch, 1700 siebenzig."

 

Diese Beispiele leiten zu einer anderen auffälligen Gewohnheit Mozarts über: sein Spiel mit bizzaren Wortbildungen und seine Reimzwängen. Auch hierfür seien einige Beispiele genannt: So schrieb Mozart in einem Brief an das Bäsle:

"Nun aber habe ich die Ehre Sie zu fragen, wie Sie sich befinden, und sich tragen Ob sie noch offenen Leibes sind ? Ob Sie etwa haben den Grind ? Ob Sie noch ein bischen können leiden ? Ob Sie öfters Schreiben mit Kreiden ? Ob Sie noch dann und wann an mich denken ? Ob Sie nicht zuweilen Lust haben sich aufzuhenken ? Ob Sie etwa gar böse waren, auf mich armen Narren ? Ob Sie nicht gutwillig wollen Fried machen, oder ich lass bei meiner Ehre Einen krachen ... "

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