Alexander R. Lurija - Biographie

Alexander R. Lurija

 

2. Lurija in Moskau

Lurija kam in Moskau an und traf dort auf eine Situation der inneren Unruhe und Umstrukturierung. Das Schlagwort war „Erneuerung": Man wollte das gesellschaftliche und wissenschaftliche Leben in dem nach der Revolution Einzug gehaltenen und von Lenin geprägten Gedankengut des Marxismus neu denken. So war die Arbeit seiner Kollegen, die allesamt nicht älter als 24 Jahre und dadurch wie er relativ unerfahren waren, von einem uneingeschränkten Enthusiasmus wegen der neuen nachrevolutionären Möglichkeiten geprägt, dem sich Lurija begeistert anschloss (LURIJA 1993). Im Zuge dieser Umstände setzte sich der Kreis von Wissenschaftlern nicht nur mit experimentell-psychologischen, sondern auch mit marxistisch-philosophischen Fragestellungen auseinander (NEUMÄRKER/ BZUFKA 1987). Ziel dabei war es, die Psychologie in Einklang mit marxistisch-sozialistischem Gedankengut bringen zu können. K. N. Kornilow hatte die Leitung des Psychologischen Institutes mit der Aufgabe übernommen, die Psychologie auf einer materialistischen Grundlage gemäß marxistischen Linien rundum zu erneuern. Nur stellte sich bald das Problem, dass es in der Diskussion keine Übereinstimmung darüber gab, wie genau diese marxistisch orientierte Psychologie auszusehen hatte (COLE 1979b).

Auch Lurija nahm den Marxismus, „der zu den komplizierteren philosophischen Systemen der Menschheitsgeschichte gehört" (LURIJA 1993, 41), nur vorsichtig auf, wenngleich er sich mit dem Gedankengut des Sozialismus und des dialektischen Materialismus identifizieren konnte und sich damit auseinander setzte (wäre dem nicht so gewesen, hätte er vermutlich auch diese Stellung nicht angeboten bekommen). Schon während seiner Zeit in Kasan hatte er sich mit Themen wie der Frage, ob die Psychoanalyse und der Marxismus (im Zusammenhang mit einem Vortrag für die Psychoanalytische Vereinigung) miteinander in Einklang gebracht werden können, beschäftigt. Einer Partei gehörte Lurija auch in Moskau nicht an (MÉTRAUX 1994).

Unabhängig von dieser Diskussion boten sich hier für Lurija weitaus vielfältigere Möglichkeiten als am Institut in Kasan. Das Psychologische Institut in Moskau verfügte über eine speziellere Laborausrüstung als in Kasan. So konnte er seine Forschungen dort fortführen, wo er in seiner Heimatstadt aufgehört hatte, nur unter besseren Bedingungen. Später wurde Lurija mit der Leitung des Laboratoriums für allgemeine Psychologie beauftragt und sollte zudem dieses Fach am Institut unterrichten, obwohl er sich fast ebenso unerfahren fühlte wie seine Studenten und ebenso jung war (MÉTRAUX /VELCKOWSKIJ 1986). Nicht wenige dieser Studenten wurden später bedeutende Vertreter der russischen Psychologie (LURIJA 1993).

Lurija selbst bezeichnet seine Aufgabe damals im Rahmen einer später gehaltenen Vorlesung als die eines wissenschaftlichen Sekretärs des Instituts für Psychologie (LURIJA 1988).

2.1 Zusammenarbeit mit A. N. Leontjew

An diesem Institut lernte Alexandr Lurija 1923 auch den in etwa gleichaltrigen Alexej Nikolajewitsch Leontjew (1903 - 1979) kennen. 

Leontjew ist deshalb zu erwähnen, da er von diesem Zeitpunkt an eng mit Lurija zusammenarbeiten und später mit ihm und Lev Wygotskij zusammen die sogenannte Troijka, eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft, bilden sollte. Lurija blieb Leontjew sein ganzes Leben lang in Freundschaft verbunden (LURIJA 1993).

In der Literatur wird Leontjews weiterer Werdegang zum Dekan der Psychologischen Fakultät der Moskauer Universität erwähnt, was auf eine erfolgreiche Karriere als Universitätsprofessor schließen lässt (KUSSMANN 1974).

2.2 Untersuchungen mit der Methode der motorischen Kopplung

Mit A. N. Leontjew führte Lurija psychoanalytisch angelegte Studien über Emotionen durch, was er als eine Synthese bisheriger Ansätze und Methoden und somit als eine Weiterführung seiner Studien in Kasan ansah.

Er entwickelte hierzu eine Methodologie, welche die psychodynamische Theorie der Psyche in der objektiven Praxis des Labors darzustellen versuchte (COLE 1990). Zentrales Element war dabei die sog. Methode der motorischen Kopplung, mit Hilfe derer ein Zusammenhang zwischen motorischen Reaktionen und emotionalen Zuständen hergestellt werden sollte. Diese durch Emotionen evozierten motorischen Reaktionen sollten durch Schlüsselwörter aus jeweils emotional besetzten Bereichen hervorgerufen werden bzw. bei neutralen Wörtern keine Wirkung zeigen. Lurija und Leontjew wollten einen Weg finden, der erklären konnte, auf welche Art und Weise Emotionen freiwilliges Verhalten organisieren bzw. durcheinanderbringen können (COLE 1979b).

Erwähnenswert war an dieser Versuchsreihe, die ausführlicher in seiner Autobiographie beschrieben ist, dass diese die Grundlage für den späteren „Lügendetektor" bildete: Anhand von unterschiedlich intensiv ausgeprägten motorischen Reaktionen (Drücken eines Gummiballes), die verbale Äußerungen (freie Assoziationen auf Schlüsselwörter) begleiten sollten, wollte man den objektiven Ausdruck innerer Konflikte messen. Dabei lehnten sich Lurija und Leontjew sehr an die Psychoanalyse, insbesondere an Freud und dessen Studien über die das Unterbewusstsein beeinflussende emotionale Erfahrungen und Jungs Assoziationsstudien an. Seine sog. Methode der motorischen Kopplung kann somit als eine Modifikation der psychoanalytische Methoden angesehen werden (COLE 1979b). Unterbewusste Reaktionen sollten quantitativ gemessen werden können (GOLDBERG 1990).

Aus der Entwicklung dieser Methode ergab sich die Notwendigkeit, einen Personenkreis zu finden, der möglichst stabile und dauerhaft stark ausgeprägte emotionale Zustände aufweisen konnte. Denn Lurija und Leontjew wollten die zu messenden Gefühle nicht künstlich hervorrufen, sondern aus realen Lebenssituationen heraus ins Labor bringen (LURIJA 1993). Die Wahl fiel deshalb auf zwei Personengruppen, bei denen derart stark ausgeprägte und stabile emotionale Zustände vermutet wurden: Studenten vor Prüfungen und überführte Mörder vor ihren Verurteilungen oder Mordverdächtige, deren Unschuld später bewiesen werden konnte. Im Laufe dieser Arbeit kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass bei starken Emotionen keine stabilen, automatischen Reaktionen im Bereich der Sprache und Motorik aufgebaut werden konnten, sondern diese vielmehr stark durch Emotionen beeinflussbar sind.

Mit COLE (1979b) stellt sich hierbei die Frage, wie Leontjew und Lurija es schafften, den Kriminalstaatsanwalt zu überzeugen, Untersuchungen mit insgesamt fünfzig verdächtigen Mördern durchführen zu dürfen.

Diese Untersuchungen über die sog. motorische Kopplung stellen eine Zwischenstation zwischen dem Umzug aus Kasan und der für das weitere Schaffen Lurijas bedeutenden Zusammenarbeit mit Wygotskij in Moskau dar und sind in der Monographie „The Nature of Human Conflicts" (1976) veröffentlicht.

Zu erwähnen sei noch, dass Lurija diese Methode - die FEUSER (1994) „kombinierte verbal-motorische Methode" (FEUSER 1994, 164) nennt - auch in späteren Forschungen anwendete, wie z. B. der Untersuchung von Kindern mit und ohne einer geistigen Behinderung im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern die Sprache das Verhalten steuert bzw. sich Sprache und Motorik gemeinsam entwickeln; oder auch später im Zusammenhang mit neuropsychologischen Untersuchungen von Patienten mit zerebralen Störungen wie Stirnhirntraumata. (LURIJA 1993).

2.3 Einordnung der Versuchsergebnisse

Im Hinblick auf ein besseres Verstehen der Einheit im Lebenswerk Alexandr R. Lurijas sind diese frühen Arbeiten unter mehreren Aspekten einzuordnen:

Lurija stellte menschliche Probleme wie die Erforschung emotionaler Situationen in den Vordergrund und versuchte, diese vielschichtigen Phänomene ganzheitlich mit Hilfe von genauen objektiven Labormethoden zu erforschen. So hatte er mit dieser „experimentellen Psychoanalyse" , wie er sie nannte (LURIJA 1993) eine Brücke zwischen Möglichkeiten im Labor und dem Menschen an sich geschlagen. Für ihn war das eine Aussicht auf eine Annäherung der sog. erklärenden und beschreibenden Verstehenszugänge an die Psychologie (COLE 1979b).

Dies entspricht auch seiner im Zusammenhang mit seinen später verfassten neurologischen Fallgeschichten geäußerten Auffassung, „that the proper study of mankind is man, and that the key to this study lies in the experience of personal identity (...)"(SACKS 1973, 870).

Lurija selbst bewertet diese Studien in zweifacher Hinsicht:

Zum einen im Hinblick auf den Fortschritt, den seine damalige wissenschaftliche Forschungstätigkeit dadurch machen konnte, weil sie eine Verwirklichung seiner frühen Ideen darstellten und ihm zudem neue Perspektiven in der Wissenschaft eröffnete im Hinblick auf spätere Studien über Aphasie oder kindliche Entwicklung (LURIJA 1993)

Zum anderen reduziert er diese - wie COLE (1979b) von einem Treffen mit Lurija selbst zu berichten weiß - in der Rückschau und im Vergleich zu den kommenden Tätigkeiten, auf ein paar Experimente, die anekdotisch davon erzählen, wie der erste Lügendetektor ins Leben gerufen wurde.

So lässt sich feststellen, dass die frühen Moskauer Studien für ihn keinen Weg darstellten, der ihn zu einer „grundlegenden Rekonstruktion der Psychologie als Wissenschaft" (LURIJA 1993, 48) führen konnte.

Allerdings rückte wie schon erwähnt die Vorstellung Lurijas von einer einheitlichen Wissenschaft über den Menschen, in der die Unterscheidung zwischen Labor und täglichem Leben aufgehoben wird, allmählich näher (COLE 1979b). Denn die methodische Verbindung von Labormodellen und Verhaltensbeobachtungen in natürlicherer Umgebung erwies sich auch in späteren Studien als durchaus fruchtbar.

Doch letztendlich sollten sich erst mit Wygotskijs bahnbrechenden Überlegungen für ihn die Möglichkeit auftun, eine Einheit in der Psychologie zu finden. Das ist der Grund dafür, warum A. R. Lurija dem nächsten Lebensabschnitt, in der die Arbeit in der Troijka und v.a. der Einfluss Wygotskijs auf ihn wegweisend sein wird, einen wesentlich höheren Stellenwert einräumt als allen Stationen, die wir kennen gelernt haben.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R. (1976): The Nature of Human Conflicts. New York: Liveright
  • Lurija, A. R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek

 

2.4 Zusammenfassung

  • In Moskau bieten sich Lurija bessere Arbeitsbedingungen schon allein hinsichtlich der Arbeitsmittel. Die Arbeit dort ist zudem geprägt von der Auseinandersetzung mit sozialistischem und materialistischem Gedankengut. Ziel ist es, die Psychologie daran zu orientieren.
  • 1923 lernt Lurija A. N. Leontjew kennen, mit dem er von diesem Zeitpunkt an eng zusammenarbeitet. Forschungsgegenstand ist dabei der Zusammenhang von Emotion und Motorik, der mit Hilfe der sog. Methode der motorischen Kopplung untersucht werden soll. Diese Methode gilt als Vorläufer des Lügendetektors. Versuchspersonen sind Menschen, die möglichst stabile und ausgeprägte emotionale Zustände aufweisen können. In diese Kategorie fallen Studenten vor Prüfungen und Mordverdächtige. Auch später hat Lurija diese Methode in modifizierter Form angewendet.
  • Die Versuche mit der Methode zur motorischen Kopplung lassen sich auf verschiedenen Ebenen bewerten.
  • Zum Einen stellen sie den Versuch einer Annäherung der beiden kontroversen psychologischen Richtungen (nomothetisch und idiographisch) dar und deshalb als Verwirklichung von Lurijas frühen Ideen anzusehen. Sie sind dabei jedoch als unpolitisch einzustufen.
  • Zum anderen stellen sie bei der Einordnung in Lurijas Lebenswerk eine relativ unbedeutende Station dar, da sie in Lurijas Augen nicht mit den großen Arbeiten der Troijka zu vergleichen sind.

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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