Vitamin B12 Mangel (ICD-10 E53.8)
Prävalenz
Definition
- Mangel (<148µmol/l)
Häufigkeit im Alter
- Zunahme mit dem Alter
- Über 70 Jahre: >6%
- Über 90 Jahre: > 14%
Verminderte Serumspiegel (<220µmol/l)
- Über 60 Jahre: >20%
Ätiologie
Unzureichende Resorption
- Gastrektomie
- Atrophische Gastritis (Achlorhydrie) – Sehr häufig im Alter!
- Helicobacter pylori Infektion
- Diarrhoe
- Dünndarmerkrankungen (Morbus Crohn, Sprue)
- Exokrine Pankreasinsuffizienz
- Nach operativen Magen-Darm-Eingriffen
- Magenbypass
- Blind-loop-syndrome
Mangelernährung
- Mangelnde Zufuhr durch Nahrung (Vegetarier und Veganer)
- Chronischer Alkoholkonsum
Medikamente
- Protonenpumpen- und H2-Hemmer
- Levodopa
- Metformin
- Lachgasinhalation
- Colchizin
- Antibiotika (Chloramphenicol, Neomycin
Parasiten
- Fischbandwurm
Kongenitale Erkrankungen
- Kongenitaler Intrinsic-Factor-Mangel
- Manifestation inerhalb der ersten Lebensjahre
- Imerslund-Gräsbeck-Syndrom
- Autosomal-rezessive Erkrankung
- Häufigste postpartale Ursache megaloblästerer Anämie
- Kongenitale Methylmalonazidurie
Formen von Vitamin B12
Formen
- Hydroxycobalamin
- Vorkommen in Fleisch
- Zwischenform des Vitamins, Umwandlung in andere Formen möglich
- Adenosylcobalamin
- Vorkommen in Fleisch
- Aktive Coenzym Form von Vitamin B12 im Körper
- Methylcobalamin
- Vorkommen in Milch
Aktive Coenzym Formen von Vitamin B12 im Körper
- Methylcobalamin und Adenosylcobalamin
- Coenzym zahlreicher enzymatischer Reaktionen
- Ribonucleotidreduktion für DNS-Synthese
Pathophysiologie
Aufnahme und Funktion
- Abspaltung von proteingebundenem Vitamin B12 durch Pepsin und Magensäure
- Bindung im Magen an R-Proteine Haptocorrine
- Abspaltung von R-Proteinen durch Pankreasenzyme
- Bindung an Intrinsic Factor im Dudodenum
- IF wird durch Parietalzellen des Magens gebildet
- Resorption des an IF gebundenen Vitamin B12 im terminalen Ileum
- Geringe passive Resorption (ca. 1%) im gesamten Duodenum
- Im Körper Bindung in Form von Holotranscobolamin (biologisch aktive Form), Haptocorrin und Transcobalamin
- Katalisator für Umwandlung von Metylmalonyl-Coenzym A zu Succinyl-Coenzym A, bei Mangel Erhöhung der Methylmalonsäure
- Synthese von Methionin durch Homocystein (Hierzu wird Folsäure benötigt)
- Methionin wichtig in der Hämatopoese
- Bei Mangel von Methionin Erhöhung von Homocystein
Bedarf und Speicherung
- Bedarf Ca. 3-4µg/Tag
- Speicherung von Vitamin B12 größtenteils in der Leber, geringer in Nieren, Muskulatur, Gehirn, Milz
- Körperspeicher reichen für ca. 3 Jahre
Symptome
Neuropathien
- Polyneuropathie – sensibel oder sensomotorisch
- Handschuh- und/oder strumpfförmige Hypästhesien
- Gemindertes Lage- und Vibrationsempfinden
- Gangunsicherheit
- Parästhesien
- Siehe auch "Polyneuropathie bei Vitamin B12-Mangel"
- Optikusatrophie
Funikuläre Myelose - häufig als Begleitsymptomatik
- Degeneration der Seiten- und Hinterstränge im Myelon beginnend zervikothorakaler Übergang
- Schädigung der Myelinscheiden sowie im Verlauf der Axone
- Subakute Manifestation
- Parästhesien der Hände und später Füße
- Störung der Tiefensensibilität
- Im Verlauf spastische Ataxie
- Gel. rasch progredienter Verlauf mit Gehunfähigkeit innerhalb von Wochen
Psychische Symptomatik
- Gedächtnisstörungen mit dementieller Entwicklung
- Depressives Syndrom, paranoid-halluzinatorische Symptomatik, Apathie
Gastrointestinale Symptome
- Atrophische Glossitis
- Zungenbrennen
Urologische Symptome
- Impotenz
- Blasenentleerungsstörungen
Blutbildveränderungen
- Megaloblastäre Anämie
- Leukopenie, Thrombozytopenie
- Panzytopenie (selten)
Morbus Biemer
- Kombination aus Glossitis, makrozytäre Anämie neurologische Ausfälle
Besonderheiten bei der klinischen Untersuchung
Sensibilitätsprüfung
- Prüfung Vibrationsempfinden (an Füßen und Händen)
- Prüfung Lageempfinden
Prüfung Koordination/Gleichgewicht
- Zeigeversuche (Ataxie im Knie-Hacke-Versuch)
- Gangprüfung mit offenen und geschlossenen Augen
- Romberg-Stehversuch (sensibel-afferente Ataxie)
Motorik/Reflexe
- Pyramidenbahnzeichen
- Muskeleigenreflexe (ASR abgeschwächt/erloschen)
- Untersuchung auf (distale) Paresen
Hirnnerven
- Visus (Fundoskopie - Optikusatrophie möglich)
- Gehör prüfen
Inspektion
- Glatte, rote Zunge bei Hunter Glossitis
- Integumenten- oder Sklerenikterus
- Hyperpigmentierung der Haut (insbesondere Hände und Füße)
Labordiagnostik
Vitamin B12 Spiegel - Normwerte
- Normwerte Erwachsene: 191 - 738pmol/l bzw. 200-1000pg/ml
- Manifester Mangel <200pg/ml
- Niedrig-normaler Spiegel 200-400 pg/ml
- Behandlungsempfehlung bei Werten <450pg/ml
- Neurologische Symptome können bereits bei o.g. Normwerten auftreten
- Dosierungsempfehlungen: Siehe unter "Therapie"
Methylmalonsäure
- Serum (pathologisch bei >280 nmol/l) oder Urin (in Bezug auf Kreatinin pathologisch >4mg/g Kreatinin)
- Bei begleitend niedrigem Holotranscobalamin spiegel hohe Aussagekraft bez. eines manifesten Vitamin B12 Mangels
Holotranscobolamin (pathologisch erniedrigt <40pmol/l)
- Spiegel 35-70pmol/l grenzwertiger Befund
- Spiegel <35 pmol/l: B12 Mangel wahrscheinlich
- Spiegel >70 pmol/l: B12 Mangel unwahrscheinlich
- Bei Niereninsuffizienz erniedrigte Spiegel, daher immer Bestimmung Nierenwerte)
- Ergänzende Untersuchung bei grenzwertigen Vitamin B12 Spiegeln sinnvoll
Antikörper
- Parietalzell-Antikörper
- IF-Autoantikörpern
Blutbild
- Anämie
- MCV erhöht
- MCH erhöht
- Hypersegmentierte Granulozyten
- Retikulopenie
Cave
- Laborwerte können normal sein trotz neurologischer Manifestation
- Gel. Maskierung einer Makrozytose bei gleichzeitigem Eisenmangel
- Zusätzlich gelegentlich
- Erhöhung LDH
- Erhöhung Bilirubin
- Eisenmangel
- Erhöhte Homocysteinspiegel
Therapie
Indikation zur Vitamin B12 Substitution
- Dringende Therapieempfehlung bei Spiegeln < 450 pg/ml
- Auftreten neurologischer Symptome auch bei "normalen Blutwerten" (Je nach Labor unterer Normwert ca. 200 pg/ml)
- Kein Risiko einer Behandlung, daher großzügige Indikationsstellung!
- Bezüglich Therapieempfehlung siehe "Literatur"
- Orale Therapie ist der parenteralen Therapie gleichwertig
Orale Therapie
- Therapiebeginn
- 1000-2000 µg/Tag über eine Woche
- Dosis abhängig von Spiegel
- Bei Spiegel < 200 pg/mg, Therapiebeginn mit 2000 µg/Tag
- Woche 2-4
- 1000µg/Woche
- Ab 2. Monat
- 1000µg/Monat
Parenterale Therapie
- Bei neurologischer Manifestation mit funikulärer Myelose, Optikusatrophie empfehlenswert
- Dosis
- Therapiebeginn
- 1-2x /Woche 1000µg intramuskulär oder (abhängig von Schwere der Symptome)
- 5-7 Tage 1000µg Hydroxycobalamin intramuskulär oder intravenös/subkutan
- Danach 2x1000µg in den Wochen 2-4
- Erhaltungsdosis
- 1000µg/Monat
- Therapiebeginn
Wichtig
- Keine Toxizität bei Überdosierung!
- Bei Therapiebeginn Kombination mit Folsäure 1,5-5 mg/die
- Kontrolle des B12-Spiegels nach ca. 4 Wochen
Prognose
- Hämatologische Symptomatik mit Besserung des Blutbildes innerhalb einer Woche (Anstieg Retikulozten), danach monatliche Kontrollen
- Besserung der neurologischen Symptomatik abhängig von Dauer und Schwere der Symptomatik, meist innerhalb der ersten drei Monate.
- Sensible Defizite mit besserer Rückbildungstendenz
Studien
Therapeutisches Vorgehen
- Neuroenhancement with vitamin B12-underestimated neurological significance,
Gröber U., Kisters K., Schmidt J., Nutrients 2013 Dec 12;5(12):5031-45 Treatment of vitamin B12 deficiency-methylcobalamine? Cyancobalamine? Hydroxocobalamin?-clearing the confusion, Thakkar K., Billa G., Eur J Clin Nutr 2015 Jan;69(1):1-2