
Wie unterscheiden sich MS, NMOSD und die MOGAD?
In den letzten 20 Jahren sind immer mehr Erkrankungen bekannt geworden, die mit ähnlichen Symptomen wie eine Multiple Sklerose (MS) einhergehen, aber von ihr abzugrenzen sind, weil sie eine jeweils andere Therapie verlangen. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine sorgfältige Differentialdiagnose zunehmend an Bedeutung.
Zur Abgrenzung von der MS sind heute folgende Differentialdiagnosen relevant:
- Vor ca. 15 Jahren wurden die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD), eine seltene, aber schwerwiegende Autoimmunerkrankung des ZNS, als eigenständiges Krankheitsbild identifiziert und der Antikörper gegen Aquaporin-4 (AQP4-Ak) als ihr diagnostisches Hauptkriterium entdeckt.
- Vor ungefähr 10 Jahren wurde die Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierte Erkrankung (MOGAD), ebenfalls eine Autoimmunerkrankung des ZNS, von der MS und der NMOSD abgegrenzt. Bei dieser Erkrankung bildet das Immunsystem fälschlicherweise Antikörper gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), das auf der Oberfläche von Myelin im Gehirn und Rückenmark vorkommt.
Alle diese drei Erkrankungen zeigen klinisch, liquordiagnostisch, epidemiologisch, kernspintomografisch und prognostisch Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede.
Im klinischen Alltag stellt die Unterscheidung – insbesondere bei Manifestation der Erkrankung – eine große Herausforderung dar.
Die nachfolgende Übersicht stellt die wichtigsten Unterscheidungskriterien der Erkrankungen dar:
Antigen und Pathophysiologie
- Bei der MS werden die Myelinscheiden im ZNS angegriffen, ohne dass bisher ein spezifisches Ziel-Antigen bekannt ist. Relevant für die Entstehung der MS scheint eine vorausgegangene Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus zu sein. Dieses Virus bleibt nach der Primärinfektion lebenslang in den B-Zellen bestehen.
- Bei der NMOSD werden Antikörper gegen das Protein Aquaporin-4 (AQP4), ein Wasserprotein der Astrozyten, gebildet, die in u.a. im Sehnerv und im Rückenmark besonders häufig zu finden sind, was zu einer besonderen klinischen Beteiligung dieser Strukturen führt.
- Bei der MOGAD hingegen ist das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein das Antigen. Das MOG-Protein wird auf Oligodendrozyten und den Myelinscheiden exprimiert, wodurch im Rahmen der autoimmunen Reaktion eine Schädigung dieser Strukturen im ZNS resultiert.
Epidemiologie
- Frauen sind sowohl von der MS als auch der NMOSD deutlich häufiger als Männer betroffen. 1,2
- Mit ca. 9:1 liegt der Frauenanteil bei der NMOSD sogar noch signifikant höher als bei der MS.2
- Bei der MOGAD ist das Geschlechterverhältnis eher ausgewogen.
- Die Inzidenz der MS hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen und liegt in Europa aktuell bei ca. 83/100.000, wohingegen die Inzidenz der NMOSD und der MOGAD lediglich ungefähr 0,4-2/100.000 beträgt.3,4,5,6
Klinischer Verlauf/Schübe
- Eine MS manifestiert sich häufig durch Sensibilitätsstörungen oder eine meist einseitige Sehnerventzündung (Optikusneuritis). Aber auch Hirnstamm-Symptome wie z.B. eine internukleäre Ophthalmoplegie (INO) können Symptom einer Erstmanifestation sein. Die MS verläuft typischerweise in rezidivierenden Schüben mit meist weitgehender Remission, wobei im Verlauf klinische Defizite - insbesondere bei unzureichender Behandlung - zunehmen. Initial chronisch progrediente Verlaufsformen sind deutlich seltener.
Bei den NMOSD treten, wie sich aus der Bezeichnung bereits ergibt, in erster Linie Entzündungen der Sehnerven und des Rückenmarks auf. Hier finden sich meist langstreckige Läsionen, die zu einer im Vergleich zur MS schwereren klinischen Symptomatik führen können. Betroffene behalten nach einem Schub oft dauerhafte Beschwerden; residuale Defizite sind bei der NMOSD – anders als bei der MS – also häufig. Auch die Affektion des Nervus opticus unterscheidet sich bei der NMOSD vom klinischen Verlauf bei der MS, denn es finden sich bei der NMOSD vermehrt beidseitige Neuritiden, und die Rückbildung ist meist unzureichend. Unbehandelt droht Erblindung. Regelmäßig kommt es - insbesondere zu Beginn der Erkrankung – zu kurz aufeinanderfolgenden Krankheitsschüben. Eine Hirnstamm-Manifestation mit Schluckauf oder Übelkeit und Erbrechen durch eine Affektion der Area postrema ist ebenfalls ein typisches Symptom der NMOSD. Ebenso sind neuropathische Schmerzen häufig und charakteristisch für diese entzündliche Erkrankung.
Die MOGAD manifestiert sich häufig bei Kindern und jungen Erwachsenen und weist in der Regel ebenfalls einen schubförmigen Verlauf auf, wobei auch monophasische Kranheitsverläufe beschrieben sind. Die Erkrankung kann eine bilaterale, simultane oder sequentielle Opticusneuritis verursachen. Myelitiden betreffen typischerweise das untere thorakale Rückenmark und den Konus medullaris, was zu Blasen-, Mastdarm- und sexuellen Funktionsstörungen führen kann. Seltener treten ADEM-ähnliche Maifestationen mit enzephalitisch bedingten psychischen Symptomen und epileptischen Anfällen auf. Bei frühzeitiger Therapie ist die Rückbildung der Symptome nach Schüben meist günstig.
Diagnostik
Die Diagnose einer MS kann inzwischen bereits gestellt werden, wenn eine typische klinische Symptomatik und typische radiologische Befunde zu finden sind, wobei dennoch zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung eine Labordiagnostik oder auch Liquordiagnostik durchgeführt werden sollte.
Während bei der MS im Liquor eine positive MRZ-Reaktion hochspezifisch für die Diagnosestellung ist, kann bei der NMOSD und der MOGAD der Antikörpernachweis gegen Aquaporin-4-Antikörper bzw. gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) im Serum gelingen. Bei entsprechendem Verdacht sind wiederholte Testungen sinnvoll.
Kernspintomographische Diagnostik
- Bei der NMOSD zeigen MRT-Aufnahmen typischerweise ausgedehnte Läsionen der Sehnerven, des Rückenmarks (häufig über mehrere Segmente) sowie - im Gehirn – des Hirnstamms und der Area postrema.
- Die MOGAD weist ähnliche Befunde auf, mit longitudinaler typischerweise beidseitiger Beteiligung der Sehnerven und des Rückenmarks. Die Läsionen im Rückenmark sind langsthäufig zentral lokalisiert häufig mit dem sogenannten H-Zeichen. Die zerebralen Läsionen finden sich supra- und infratentoriell in der weißen Substanz, kortikal, im Bereich des Hirnstamms und der Medulla oblongata sowie mit Beteiligung der tiefen grauen Substanz.
- Im Gegensatz dazu können bei der MS die typischen entzündlichen Veränderungen das Rückenmark auch aussparen. Bei Beteiligung des Rückenmarks sind die Läsionen typischerweise nicht längerstreckig Die Herde finden sich periventrikulär als sogenannte Dawson Fingers, juxtakortikal, kortikal, subkortikal in der weißen Substanz sowie im Hirnstamm und im Gegensatz zu der NMOSD im inferioren Temporallappen und subkortikalen U-Fasern. Spezifisch für die MS sind die paramagnetischen RIM-Läsionen sowie das zentrale Venenzeichen.
Quellen:
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