Alexander R. Lurija - Biographie

4. Kulturhistorische Forschungsgebiete A. R. Lurijas

Die Überwindung der Krise durch den neuen psychologischen Ansatz stellte die Troijka mit Lurija, Wygotskij und Leontjew vor eine gewaltige Aufgabe. Sie erarbeitete - in der Wohnung L. S. Wygotskijs, wie LURIJA (1988) berichtet - die Grundlagen dieser neuen Psychologie und forschten in verschiedenen Arbeitsfeldern, die dadurch im Zusammenhang standen, dass sie alle in der Basis von der kulturhistorischen Bedingtheit des Psychischen ausgingen.

MÉTRAUX (1988) erwähnt dabei die intensive Zusammenarbeit der Troijka, die es erschwert, letztendlich die Urheberschaft einzelner Bereiche genau den einzelnen Personen, Lurija, Wygotskij oder Leontjew zuzuordnen. Allerdings hat jeder von ihnen, auch die später zur wissenschaftlichen Gruppierung hinzukommenden Mitarbeiter wie P. J. Galperin verschiedene Aspekte dieses psychologischen Systems ausgearbeitet und weitergeführt. Lurija selbst spezialisierte sich auf Untersuchungen von Sprache und Denken.

Für Alexandr R. Lurija war diese Arbeit mit Wygotskij, den er nach wie vor sehr schätzte, im Hinblick auf seinen weiteren Werdegang von großer Bedeutung. Wygotskij förderte sein Interesse für Psychologie. Mit ihm gelangte er zu einem unvergleichlich breiteren und tieferen Verständnis seiner eigenen ursprünglichen Ansätze (LURIJA 1993).

Das zentrale Interesse der Troijka gestaltete, wie schon erwähnt, die Genese der höheren psychischen Prozesse eines Organismus im Zusammenhang mit der Beziehung zu seiner Umwelt (Wie erkennt der Mensch die Welt?). Deshalb bestimmte sich der theoretische Rahmen, in dem sich die Forscher bewegten, durch die Verbindung von Phylogenese, Ontogenese und kulturhistorischer Genese (die Soziogenese) des Psychischen, (MÉTRAUX 1986).

Daraus leiteten Lurija und Wygotskij drei Untersuchungsrichtungen ab, die ihr Aufgabenfeld absteckten und mit Hilfe derer die menschliche Erkenntnistätigkeit möglichst umfassend untersucht werden sollte:

  • „Unsere Aufgabe besteht darin, die drei Grundlinien der Verhaltensentwicklung - die evolutionsgeschichtliche, die historische [sc. kulturhistorische] und die ontogenetische - freizulegen und zu zeigen, dass das Verhalten des akkulturierten (des angepassten, Anm. d. Verf.) Menschen Ergebnis dieser drei Entwicklungslinien ist. Das heißt, das menschliche Verhalten kann nur auf der Grundlage dieser drei Wege, auf denen es geformt worden ist, wissenschaftlich verstanden und erklärt werden"
  • (WYGOTSKIJ, L. S./ LURIJA, A. R., 1930, 3; zit. n. MÉTRAUX 1992, 18).

Aus diesen Grundlinien ergaben sich drei Hauptforschungsbereiche (MÉTRAUX 1988; MÉTRAUX /VELICKOVSKIJ 1986):

  • die Entstehung der höheren Formen psychischer Tätigkeit
  • die Ontogenese des Psychischen: die dynamische Beziehung zwischen biologischen und sozialen Faktoren in der kindlichen Entwicklung, und schließlich
  • interkulturellen Unterschiede der psychischen Funktionen.

Alle Bereiche wurden unter dem schon erwähnten Gesichtspunkt des komplizierten Zusammenspiels biologischer Faktoren, als Teil der physischen Natur, und kultureller Faktoren, als Ergebnis des Verlaufs der Menschheitsgeschichte, untersucht (LURIJA 1993).

Allerdings stellten diese Entwicklungsstudien, ob nun individuell gesehen über Kinder oder über ganze kulturelle Gruppen, für Lurija nur einen Aspekt der allgemeinen Konzeption zur kulturhistorischen Theorie dar (COLE 1979b). Ebenso wichtig waren Lurijas Untersuchungen über den „umgekehrten" Weg, nämlich die Auflösung und Zerstörung psychologischer Prozesse durch Krankheiten oder Traumata, welche die Entwicklung zunichte machen, die sich aus Evolution und kultureller Erfahrung herausgebildet hat. Diesem zweiten Verfahren, den neurologisch-psychologischen Untersuchungen, wird v.a. im zweiten Teil der Arbeit Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Unter dem Entwicklungsaspekt nahm A. R. Lurija v.a. zwei Projekte in Angriff, die darauf ausgerichtet waren, die Auswirkungen der kulturhistorischen Theorie an der Praxis zu untersuchen: Zum einen die Expeditionen nach Zentralasien, zum anderen die großangelegten Studien über die Rolle von Vererbung und kultureller Umwelt bei der geistigen Entwicklung von Zwillingen (COLE 1979b).

Die Praxisstudien machen deutlich, dass bei diesen Grundlinien der Verhaltensentwicklung wiederum immer eine Einheit von Theorie und Praxis angestrebt wurde, was eines der wichtigsten Prinzipien der sowjetischen Psychologie ausgehend vom Marxismus war. Denn „die Praxis ist das Kriterium der Richtigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse" (HIEBSCH 1967, XI).

4.1 Entstehung der höheren Formen psychischer Tätigkeit

Im ersten Forschungsbereich beschäftige sich die Troijka mit der Genese der höheren psychischen Tätigkeiten. Höheren Tätigkeiten bzw. Funktionen ist gemeinsam, dass sie am Zeichengebrauch beteiligt sind und aus ihnen hervorgehen (MÉTRAUX 1992). Diese Verwendung von Zeichen lässt sich als Verwendung sozial vermittelter Hilfsreize (sprachlichen Zeichen, Gegenstände mit konventionell festgelegter Bedeutung usw.) charakterisieren. Zu diesen höheren psychischen Prozessen zählen beispielsweise Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Denken.

Aufgrund der Annahme dieser Gemeinsamkeit beschäftigte man sich deshalb z. B. am Phänomen des Gedächtnisses nicht mit dem Inhalt dessen, was sich der Mensch einprägt, sondern mit den Mitteln, die er beim Einprägen benutzt. Denn die Mittel stellen wiederum eine Beziehung her zwischen den psychischen Prozessen und der außerhalb des Organismus liegenden sozialen Umwelt. Leontjew erforschte in den späten zwanziger Jahren vor allem diese kulturhistorische Bedingtheit des menschlichen Gedächtnisses und hat sie im Rahmen der Gedächtnispsychologie weiterentwickelt.

Im Bereich der Aufmerksamkeit versuchte Wygotskij zu zeigen, dass die willkürliche Aufmerksamkeit eine durch äußere Mittel gesteuerte Aufmerksamkeit ist (LURIJA 1988).

Weiterführende Literatur:

  • Leontjew, A. N. (1931): Die Entwicklung des Gedächtnisses. Moskau (russ.)
  • Leontjew, A. N. (1973): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Frankfurt /Main
  • Wygotskij, L. S. (1985): Ausgewählte Schriften, Band 1. Köln
  • Wygotskij, L. S. (1987): Ausgewählte Schriften, Band 2. Köln

 

4.2 Ontogenese des Psychischen

Im zweiten Forschungsbereich wurden die höheren, komplex aufgebauten psychischen Prozesse unter dem Gesichtspunkt ihrer Entwicklung thematisiert. Der Grundgedanke dieser Analysen war es, die Wechselwirkung zwischen phylogenetisch gegebenen, biologischen Faktoren und sozialen Faktoren anhand der Ontogenese des Psychischen aufzuzeigen (MÉTRAUX 1988). Auch diese Untersuchungsreihe hatte das Ziel, den Aufbau höherer psychischer Funktionen zu erfassen.

Der Unterschied zu anderen Konzepten mit einer mechanistischen Vorstellung von Entwicklung liegt darin, dass nicht fertige Verhaltensformen analysiert, sondern die Genese dieser Verhaltensformen Untersuchungsgegenstand ist (WYGOTSKIJ 1992).

Nicht die Entwicklung einzelner Elemente wird untersucht, sondern die Entwicklung als Ganzes betrachtet, da sich Entwicklung nach Wygotskij nur dann verstehen lässt, wenn unmittelbar der Prozess der Veränderung beobachtet wird und nicht ein erstarrter Augenblick in der kindlichen Entwicklung (MILLER 1993).

In diesem Zusammenhang ist die Entwicklungstheorie Wygotskijs von der „Zone der proximalen Entwicklung" - als Distanz zwischen aktuellem und potenziellen Entwicklungsniveau des aktiven Kindes in seinem Kontext - von Bedeutung, kann jedoch in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden (siehe weiterführende Literatur).

Hauptforschungsgegenstand war die entwicklungspsychologisch bedeutsame Beziehung zwischen Denken, Handeln und die Rolle, welche der Sprache dabei zukommt. Denken wird dabei als verinnerlichtes, ursprünglich äußeres Handeln aufgefasst (GALPERIN 1975), wobei jede Handlung Etappen durchläuft und schließlich als sog. „geistige Handlung" verinnerlicht wird. Der Sprache kommt dabei eine wichtige Rolle zu, da sie „innerhalb der geistigen Prozesse zum Träger der verinnerlichten Handlung wird" (BREITENBACH 1995, 2/3).

Vor diesem Hintergrund führte Lurija vergleichende Untersuchungen mit Kindern mit und ohne geistiger Retardierung (damals gebräuchliche Bezeichnung) durch, um über diesen Weg die Entwicklung und Struktur der normalen höheren psychischen Funktionen nachvollziehen zu können (LURIJA 1993).

Grundlage stellte die Auffassung der Troijka dar, dass das Denken in Abhängigkeit von und durch Sprache vermittelt ist (FEUSER 1994). Wenn Sprache also nicht zur Verfügung steht bzw. verloren geht, dann, so folgert Lurija, geht auch das Denken nicht über einen vorsprachlichen Status hinaus.

Die Folgerung, die sich daraus für das Verständnis Lurijas von Behinderung ergab, stellt FEUSER (1994) fest:

  • „(...) geistige Behinderung ist ihm, dem Neurowissenschaftler und ‚physiologischen Psychologen' (...) nicht wie einem Behindertenpädagogen ein primäres, sondern mehr ein mediäres, vermitteltes und vermittelndes Anliegen(...) .Ich meine damit nicht, dass ihm die Personen und ihr Ergehen unwichtig sind (...) . Nur das Primat seiner Fragestellung fokussiert ein anderes Erkenntnisinteresse als Fragestellungen eines Behindertenpädagogen" (FEUSER 1994, 162/163).

1925 gründete Wygotskij ein Laboratorium, das unter dem offiziellen Namen „Institut für experimentelle Defektologie" lief und in dem wegweisende Forschungen über Kinder mit einer Lern- bzw. geistiger Behinderung durchgeführt wurden (MÉTRAUX 1994). Ziel war es, daraus Verfahren zur bestmöglichen Unterstützung behinderter Kinder gewinnen zu können. Dabei standen nicht Defekte oder Ausfälle im Mittelpunkt der Forschung, sondern es wurde, im Sinne einer Vorstellung von der Entwicklung als Ganzes und der Fähigkeit der Reorganisation psychischer Prozesse, an den vorhandenen Fähigkeiten angesetzt, was modernen Förderansätzen in der Sonderpädagogik gleichkommt.

Zum Behindertenbegriff bei Wygotskij und Lurija sei auf die weiterführende Literatur verwiesen. Auf weitere Konsequenzen für das sonderpädagogische Denken, die sich aus den Forschungen Lurijas ableiten lassen, wird am Ende dieser Arbeit noch eingegangen werden.

Weiterführende Literatur:

  • Feuser, G. (1994): Lurijas Beitrag zur Theorie der geistigen Behinderung. In: Jantzen, W.: Die neuronalen Verstrickungen des Bewusstseins. Zur Aktualität von A. R. Lurijas Neuropsychologie. Münster/Hamburg. 159 - 204
  • Lurija, A. R. (1961): Study of the Abnormal Child. In: American Journal of Orthopsychiatry 31.1 - 16
  • Lurija, A. R. (1963): The Mental Retarded Child. Oxford/ New York
  • Lurija, A. R. (1992): Ein dynamischer Erklärungsansatz bezogen auf die geistige Entwicklung bei gestörten Kindern. In: Jantzen, W./ Holodynski, M. (Hrsg.): A. R. Lurija heute. Beiträge zu zentralen Aspekten humanwissenschaftlicher Forschung. Bremen. 235 - 258
  • Miller, P. (1993): Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg. 339 - 358

 

4.2.1 Zwillingsforschung

1925 wurde in Moskau ein medizinisch-biologisches Institut gegründet, dessen Aufgabe es war, Erkenntnisse der modernen biologischen Wissenschaft, insbesondere der Genetik, auf medizinische Probleme anzuwenden (COLE 1979b). Auch dieses Institut hatte den politischen Auftrag, sich am Aufbau der sowjetischen Gesellschaft zu beteiligen, und zwar in dem Sinne, die Bedingungen für die realen Vorstellungen über den sowjetischen Bürger der Zukunft aufzuzeigen.

Ein Teil der dort stattfindenden Studien befasste sich auch mit der Entwicklung eineiiger und zweieiiger Zwillinge. Um die natürlichen von den kulturbedingten Entwicklungsfaktoren differenzieren zu können, schienen vergleichende Langzeituntersuchungen mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen als Methode am geeignetsten (LURIJA 1993). Denn die jeweiligen Anlage-Umwelt-Anteile können aufgrund der besonderen Bedingungen (gleicher Genotyp, gleiche Umwelteinflüsse bei eineiigen bzw. ungleicher Genotyp, gleiche Umwelteinflüsse bei zweieiigen Zwillingen) bei Zwillingen besonders gut untersucht werden und sind daher in der Entwicklungspsychologie von Bedeutung.

LURIJA (1993) zufolge wurden in einem ausgearbeiteten Forschungsprogramm am Moskauer Institut praktisch alle in der Sowjetunion lebenden Zwillinge erfasst, um möglichst repräsentative Ergebnisse erhalten zu können. Lurija ging von dem umfassenden Untersuchungsansatz aus, dass natürliche und kulturelle Prozesse nicht nur unterschiedliche Ursprünge haben, sondern sich auch ihre Wirkungsweise während der kindlichen Entwicklung verändert (LURIJA 1993). Das heißt, er ging weder von einer Dominanz genetischer noch einer gesellschaftlicher Faktoren aus. Vielmehr entwickelten die Wissenschaftler aus diesem Ansatz die These, dass angeborene Anteile, welche die intellektuelle Tätigkeit beeinflussen, eine größere Rolle bei natürlichen Erkenntnisprozessen spielen. Dagegen treten kulturelle Anteile bei Aufgaben, deren Lösung von Fertigkeiten abhängt, die erlernt und somit kulturell bedingt sind, stärker hervor (LURIJA 1993).

Lurija zeigte mit diesen Untersuchungen, dass die Rolle der biologischen Faktoren für jede psychische Funktion unterschiedlich zu bewerten ist und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Kindes mit fortschreitender Entwicklung abnimmt. So haben biologische Faktoren v.a. bei der Entwicklung der sensomotorischen Funktionen eine große Bedeutung (MÉTRAUX 1988). An der Entwicklung der sogenannten natürlichen oder elementaren Funktionen (etwa des visuellen Gedächtnisses) sind sie zwar noch beteiligt, fallen dagegen aber in der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen (etwa bei Wahl- und Entscheidungsreaktion oder beim zeichenvermitteltem Gedächtnis) nicht mehr ins Gewicht.

Bei der Entwicklung spielt in diesem Zusammenhang die Beziehung des Kindes zu seiner Mutter (i. S. v. Bezugsperson) eine große Rolle. Wiederum wird wie im vorangegangenen Punkt über die Grenzen des Organismus hinaus die Beziehung als Mittel der Entwicklung in den Mittelpunkt gestellt.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R. (1936): The Development of mental Functions in Twins. In: Character and Personality, No 5, pp. 35 - 47.
  • Lurija, A. R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek. 93 - 109
  • Lurija, A. R.; Judowitsch, F. Ja.(1973): Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes. Düsseldorf

4.2.2 Sprachentwicklung

Sprache nimmt als wichtigstes psychologisches Werkzeug in der Theorie der kulturhistorischen Schule eine entscheidende Bedeutung ein:

„Sie befreit uns von den unmittelbaren Wahrnehmungserfahrungen und ermöglicht es, das Unsichtbare ebenso wie die Vergangenheit und Zukunft zu repräsentieren" (MILLER 1993, 355). Sprache hat die Funktion, die aktiven und dynamischen Beziehungen des menschlichen Organismus und seiner Umwelt zu steuern, organisiert also die Repräsentation der Umwelt in unserem Gehirn, plant als Instrument die Zukunft und ist Mittel, um unser Verhalten aktiv zu steuern und kontrollieren zu können. Mit der Sprache steht dem Menschen also ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem er nicht nur kommunizieren, sondern auch seine geistigen Prozesse ordnen und steuern kann. Durch diese höheren Funktionen erreicht er ein qualitativ neues Niveau in der Organisation seiner Tätigkeiten.

Aufgrund dieser Erkenntnis haben sich Lurija und Wygotskij mit der Entwicklung der Funktion der Sprache in der Ontogenese des Kindes auseinandergesetzt. Sprachentwicklung wird nicht als automatische Reifung verstanden, sondern als Ergebnis der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt. So nimmt sie ihren Anfang in der Handlung zwischen Mutter und Kind, in deren Verlauf Wortbedeutungen „ausgehandelt" werden. Dabei steht die Grundhypothese im Vordergrund, dass kein Kind seine Sprache erlernen und benutzen kann mit ihren vielfältigen und weitreichenden Funktionen, wenn es nicht von Anfang an mit dieser in einer menschlichen Gemeinschaft, die sich durch sprachliche Kommunikation auszeichnet, in Berührung kommt und sich darin entfalten kann. Sprache setzt folglich eine Interaktion zwischen Menschen voraus, die wiederum in starkem Maße von dem geteilten kulturellen Rahmen abhängig ist.

Später wird die Handlung oder das Spiel sprachlich begleitet, das nach Wygotskij (1972) dem Kind in seiner Vorstellung schon das ermöglicht, was es noch nicht kann, und zudem den Bereich der Spontaneität und Freiheit bestimmt, da es meist ohne Anleitung der Eltern geschieht.

Diese „Selbstgespräche", die J. Piaget für funktionsloses egozentrisches Sprechen hält, das er mit dem Egozentrismus des Kindes erklärt, stellen in der Kontexttheorie dagegen eine Zwischenstufe im Übergang zur „interiorisierten" Sprache dar (COLE 1990). Kinder lösen dabei Aufgaben ebenso mit dem Sprechen wie auch mit Augen und Händen, so dass Sprache, Wahrnehmung und Handeln eine Einheit bilden (siehe auch II, 2.2.5).

Die Interiorisation der Sprache bedeutet damit, dass Handlungen in der Vorstellung vorweg genommen werden können und nun mit Hilfe der (inneren) Sprache gesteuert werden können. Lurija (1993) und Galperin (1975) bezeichnen sie deshalb auch als „geistige Handlung".

Die Interiorisation, die Verinnerlichung, stellt den Grundprozess in der Entwicklung eines Kindes dar, der konkretes und praktisches Verhalten in eine verinnerlichte Vorstellung überführen kann (AEBLI 1967). Durch dieses Vorstellungsvermögen können kognitive Handlungen (Piaget nennt sie geistige Operationen) automatisiert und realisiert werden.

Die „geistige Handlung" ist somit aus sozialhistorischen Wurzeln entstanden, aus dem Handeln des Kindes mit seiner sozialenUmwelt. Dieser Übergang vom äußeren zum inneren Sprechen geschieht in einem langwierigen Prozess (PICKENHAIN 1994).

Die Vorstellung von der Verinnerlichung konkreter Handlung deckt sich mit der anderer Schulen wie z. B. der Genfer Schule um Jean Piaget (1896 - 1980).

Allerdings steht die Auffassung der kulturhistorischen Psychologie über den Stellenwert der Sprache und dem Wesen der Tätigkeit in der Entwicklung des Kindes im Gegensatz zu der des Entwicklungspsychologen Jean Piagets (AEBLI 1967): Für Piaget ist Sprache als eine Begleiterscheinung der geistigen Entwicklung zu verstehen, die Tätigkeit sieht er v.a. in der Interaktion des Menschen mit seiner physischen Umwelt.

Dagegen geht die sowjetische Psychologie mit Lurija und Wygotskij davon aus, dass die Tätigkeit von vornherein als ein Prozess von Individuum und Umwelt betrachtet werden muss. Die Sprache wird dabei zentral als Ursache und Wirkung dieser Tätigkeit angesehen, die das Denken bestimmt und geistige wie konkrete Handlungen reguliert.

Lurija hat sich intensiv mit dem Phänomen der Sprache und ihrem Einfluss auf das Denken beschäftigt und sich ihm von zwei Seiten genähert: Von ihrem Entwicklungsaspekt her, also dem Aufbau der Sprache bei Kindern und später aber auch sehr intensiv von ihrem Zerfall her, beispielsweise bei Aphasiepatienten, die mit dem teilweisen Verlust ihrer Sprache kämpfen müssen. Auf dieses interessante Thema kann wegen seiner Fülle allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht in entsprechender Weise eingegangen werden. Deshalb sei an dieser Stelle wiederum auf weiterführende Literatur verwiesen.

Weiterführende Literatur:

  • Grimm, H. (1998): Sprachentwicklung - allgemeintheoretisch und differentiell betrachtet. In: Oerter, R./Montana, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim. 705 - 757
  • Lurija, A. R. (1967): Die Entwicklung der Sprache und die Entstehung psychischer Prozesse. In: Hiebsch, H. (Hrsg.): Ergebnisse der sowjetischen Psychologie, S. 465 - 546. Berlin/DDR
  • Lurija, A. R.; Judowitsch, F. Ja. (1973): Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes. Düsseldorf
  • Lurija, A. R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek. 110 - 140
  • Lurija, A. R. (1998): Das Gehirn in Aktion. Reinbek. 307 - 327
  • Piaget, J. (1972): Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf
  • Szagun, G. (1996): Sprachentwicklung beim Kind. Weinheim

4.3 Kulturhistorische Genese des Psychischen

Die bisher aufgezeigten Forschungsgebiete der Troijka beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit der psychischen Entwicklung des Kindes. Im Zentrum stand also vornehmlich die individuelle Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins, die Ontogenese.

Die sog. interkulturelle Forschung sollte zum Verständnis der Entwicklung im Kontext der Geschichte beitragen. Lurija und seine Kollegen waren dabei an einer breit angelegten Untersuchung über die historischen Entwicklung kultureller Formen der Vermittlung im Kontext der spezifischen sozialen, kulturellen und historischen Umstände interessiert. Dazu mussten verschiedenen kulturelle Gruppen in ihrer geschichtlichen Entwicklung untersucht werden.

Nach einem intensiven Literaturstudium über sog. vergleichende ethnopsychologische Forschungen und ihrer 1930 erschienenen Veröffentlichung der „Studien zur Geschichte des Verhaltens" („Ètudy po istorii povidenija", für den im Russischen Versierten), hatten Lurija und Wygotskij die Problemstellung zwar theoretisch angegangen, doch fehlten ihnen im Hinblick auf die angestrebte Einheit von Theorie und Praxis empirische Befunde, die diese Theorie untermauern hätten können (MÉTRAUX 1988). Zudem war der Stand der interkulturellen Forschung Ende der zwanziger Jahre relativ uneinheitlich, was Methode, Zielsetzung und Schlussfolgerungen beim Vergleich „primitiver" Völker mit kulturell höher entwickelten betraf, und wurde kontrovers diskutiert.

Untersucht werden sollte nun in diesem Zusammenhang die intellektuelle Tätigkeit bei Erwachsenen vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-historischen Entstehung psychischer Prozesse selbst.

Aufgrund dieser kontroversen Lage und aus Mangel an empirischen Befunden, machte Wygotskij den Vorschlag, eine eigene Expedition durchzuführen und die intellektuelle Tätigkeit bei Erwachsenen zu untersuchen. Ziel war es, die Art und Weise zu erforschen, wie sich das Bewusstsein des Menschen in den aufeinanderfolgenden Etappen der sozialen Geschichte der Menschheit herausgebildet hat (LURIJA 1986). Die letztendlich zwei Expeditionen leitete A. R. Lurija, Wygotskij nahm aus gesundheitlichen Gründen - er litt schon seit mehreren Jahren an Tuberkulose - daran nicht teil.

4.4 Exkurs „Expedition"

Da diese Expedition der erste Versuch der sowjetischen Psychologen war, die historische Bedingtheit der psychischen Prozesse experimentell zu untersuchen und die Erkenntnisse, die aus diesen insgesamt zwei Expeditionen gezogen werden konnten, auch heute noch als alterslose Beschreibung der Kulturgeschichte des Psychischen gültig sind, sollen diese Expeditionen im Folgenden ausführlicher in einem Exkurs dargestellt werden. Er soll im Wesentlichen zeigen, wie dabei vorgegangen wurde und zu welchen Ergebnissen Lurija, der die Expedition leitete, und seine Kollegen kamen.

4.4.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung

Inwieweit beeinflusst das jeweilige gesellschaftliche Leben eines Menschen in seiner Kultur die Entwicklung seines Bewusstseins und damit verbunden sein Verständnis von Wirklichkeit? Dies war die Fragestellung, die dieser Expedition zugrunde lag. Anders ausgedrückt, inwieweit kann das Bewusstsein, dessen Neubestimmung den Mittelpunkt der Forschungsarbeit der kulturhistorischen Schule bildete, als Produkt des gesellschaftlichen Lebens angesehen werden?

Die kulturhistorische Schule verstand dabei den Begriff des „Bewusstseins" als höchste Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, die sich der Einzelne durch aktive und tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt schafft (LURIJA 1986).

Wie schon erwähnt war das sich daraus ableitende Ziel der Expedition die Erforschung psychischer Prozesse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen bzw. historischen Entstehung, das bis dato noch nicht untersucht worden war. Dabei ging es nicht so sehr um die psychischen Prozesse bzw. die gesellschaftlichen Formen an sich, sondern um die Beziehung und die gegenseitige Bedingtheit der beiden Komponenten (psychische Prozesse - gesellschaftliche Verhältnisse).

Um diesen Zusammenhang aufzudecken, wollten Lurija und seine Mitstreiter der Problemstellung nachgehen, ob bei einer Veränderung oder Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse psychische Prozesse umgestaltet oder lediglich erweitert würden (LURIJA 1986).

Unter Erweiterung versteht Lurija dabei z. B. die Erweiterung der psychischen Prozesse um weitere Erfahrung, der Erwerb neuer Fertigkeiten und Kenntnisse, die Aneignung der neu in die Kultur eingeführten Schriftsprache etc.. Das hieße, dass Entwicklung auch als Erweiterung begriffen werden müsste.

In der Umgestaltung dagegen sieht er die Umgestaltung der Struktur der psychischen Prozesse, welche die Bildung neuer psychischer Systeme zur Folge hätte. Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt müsste folglich als Umstrukturierung begriffen werden. Der Beweis der letzteren Annahme, so folgert Lurija weiter, hätte demzufolge weitreichende Konsequenzen für ein Verständnis der Psychologie als gesellschaftlich-historische Wissenschaft.

4.4.2 Untersuchungssituation

Um diese Bewusstseinsprozesse feststellen und analysieren zu können, war es notwendig, einen Kulturkreis zu finden, der gerade derartigen Veränderungen unterzogen war. Das heißt, innerhalb einer einheitlich geographisch und ethnischen Kultur mussten verschiedene Gruppen gefunden werden, die verschiedene Entwicklungsstufen, also beispielsweise technisch rückständige oder analphabetische Gruppen neben höher zivilisierten, repräsentierten. Die normalerweise im Längsschnitt über lange Zeiträume hinweg zu betrachtende Entwicklung einer Kultur sollte also im Querschnitt aufgrund gerade sich vollziehender radikaler Umgestaltungen vorgefunden werden.

MÉTRAUX macht die Problematik deutlicher: „Die Ungleichheit geschichtlicher Epochen ein und derselben Gesellschaft musste in der Gleichzeitigkeit der Feldversuche zugänglich, analysierbar, objektivierbar und messbar sein" (MÉTRAUX 1994, 22).

Diese selten anzutreffenden Bedingungen wurden aufgrund der seit der Oktoberrevolution im ganzen Land mehr oder weniger rasant stattfindenden sozialistischen Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens tatsächlich vorgefunden. Im Jahr 1929 begannen Lurija und Wygotskij, die schon erwähnte Expedition nach Samarkand in Usbekistan und den angrenzenden Gebieten Kirgisiens zu planen, deren Bevölkerung sich in einem solchen gesellschaftlichen Wandel befand (MÉTRAUX 1994). Dies geht auch aus einem Brief Lurijas an Kurt Lewin hervor (MÉTRAUX 1986).

Schließlich führte das wissenschaftliche Institut von Usbekistan zusammen mit dem psychologischen Institut Moskau im Juli 1931 eine erste psychologische Expedition mit dem Ziel durch, die psychischen Besonderheiten der Bevölkerung eines bestimmten Kulturkreises zu studieren, die auf verschiedenen Stufen der sozialen und kulturellen Entwicklung standen (LURIJA, 1986, 186). Die zweite Expedition folgte im Sommer 1932 und wurde unter nahezu identischen Bedingungen durchgeführt. An ihr nahm auch ein ausländischer Forscher teil, der Gestaltpsychologe Kurt Koffka.

LURIJA (1986) beschreibt die Bedingungen, die in Usbekistan vorgefunden wurden, den Einfluss und die Konsequenzen der sozialistischen Revolution folgendermaßen:

„In Usbekistan herrschten vor der Revolution rückständige ökonomische Verhältnisse, es dominierte der naturwissenschaftlich betriebene Baumwollanbau; Überreste einer ehemals hochstehenden Kultur verbanden sich mit einem fast ausnahmslosen Analphabetismus der Dorfbewohner und mit einem ausgeprägten Einfluss des Islam.

Durch die sozialistische Revolution wurden die Klassenherrschaft und -unterdrückung beseitigt, und die gestern noch Unterdrückten erhielten eine im vollen Maße freie Existenz, die die Verantwortung für ihre eigene Zukunft einschloss. Usbekistan begann sich in eine Republik mit genossenschaftlich betriebener Landwirtschaft und aufkommender Industrie zu verwandeln. Die neuen Wirtschaftsformen brachten neue Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit hervor: die kollektive Erörterung der Arbeitspläne, die Erfassung und Überwindung von Mängeln, die Verteilung der Wirtschaftsfunktionen.

Auf dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen in der Klassenstruktur der Gesellschaft vollzogen sich kulturelle Wandlungen. Natürlich führte das zu einer völligen Veränderung der sozialökonomischen Lebensbedingungen in diesen Regionen" (LURIJA 1986, 35/36).

Die Moderne zog also in diese entlegenen Gebiete ein und mit ihr veränderte Arbeitsbedingungen und Schulausbildung, aber auch die Emanzipation der Frau, der bis dahin aufgrund des islamischen Einflusses die Beteiligung am öffentlichen Leben untersagt gewesen war (LURIJA 1993).

Aus der Darstellung dieser Untersuchungssituation ergaben sich fünf verschiedene Gruppen, die zwar alle keine Hochschulbildung besaßen, aber sich in ihrer Kommunikationsweise, ihrer Weltanschauung oder hinsichtlich des Charakters ihrer praktischen Tätigkeiten voneinander unterschieden. Nach LURIJA (1986/1993) lassen sie sich entsprechend einteilen:

  • Vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzte Frauen in entlegeneren Dörfern, die Analphabetinnen waren
  • Analphabetische Einzelbauern aus entlegenen Gebieten, die noch nicht in den Genossenschaften, der gesellschaftlichen Form der Arbeit, arbeiteten
  • Frauen, die meisten von ihnen ebenfalls Analphabetinnen, die jedoch in Schnellkursen zur Kindergärtnerin ausgebildet worden waren
  • Kolchosmitglieder und Mitglieder von Jugendgruppen, die bereits Einblick in die neuen gesellschaftlichen Strukturen hatten, jedoch nur kurz die Schule besucht hatten
  • Studentinnen, die nach einer 2-3jährigen Schulung eine pädagogische Fachschule besuchen durften, aber relativ niedriges Bildungsniveau besaßen

Diese fünf Gruppen wurden unter zwei große zusammengefasst: Die letzten drei Gruppen waren aktiv am gesellschaftlichen Wandel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft beteiligt. Für sie entstanden z. B. neue Formen sozialer Beziehungen und neue Wirtschaftsformen, die wiederum neue Grundsätze in ihr Leben brachten. Man stellte hier die These auf, dass dies die Voraussetzungen für eine tiefgreifend psychologische Wandlung seien, die sich im Inhalt und der Form des Denkens niederschlagen sollten. Bei den ersten beiden Gruppen erwartete man dagegen aufgrund der äußeren Bedingungen eher geringere Voraussetzungen für einen derartigen Wandel im Denken.

4.4.3 Ausgangshypothese

Ausgehend von dieser Untersuchungssituation formulierte die Forschergruppe um LURIJA (1986) die Hypothese, dass sich für die ersten beiden Gruppen die Wirklichkeit hauptsächlich aus der unmittelbaren und anschaulichen Praxis konstruiert, die zweite Gruppe jedoch kompliziertere und vermitteltere Formen der psychischen Tätigkeit aufweist und damit ein anderes Bild, einen anderen Charakter von der Widerspiegelung der Wirklichkeit entwickelt hat.

Man ging davon aus, dass diese jeweiligen Erkenntnisstrukturen den jeweiligen sozial-historischen Handlungsaufgaben entsprechen (PICKENHAIN 1994). Ziel war es, diese möglichen Unterschiede aufzudecken und mögliche Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen.

Die Hauptthemen der Expedition waren (LURIJA 1986):

  • die Struktur der Denkprozesse in den verschiedenen Gruppen
  • die Struktur der einzelnen psychischen Prozesse (Bsp. Wahrnehmung)
  • die Umgestaltung dieser Strukturen beim Übergang zu neuen Formen des Denkens
  • die Struktur der Persönlichkeit und der sozialen Charakterbildung
  • Diese sollten anhand der Prozesse „Wahrnehmung", „Abstraktion und Verallgemeinerung", „Schlussfolgern", „Urteilen", „Phantasie" und „Selbstanalyse und Selbstbewusstsein" studiert werden.

4.4.4 Methoden

Als Arbeitsmethode bei diesen Felduntersuchungen wurde von der reinen Beobachtung abgesehen und dagegen vollwertige experimentalpsychologische Untersuchungen durchgeführt, die überzeugende Ergebnisse bringen sollten. Mit dieser Expedition sollte zudem gezeigt werden, dass die von der Troijka angestrebte Synthese historischer verstehender (idiographischer) und experimenteller (nomothetischer) Verfahren möglich war (MÉTRAUX 1993a).

LURIJA (1986) beschreibt diese aufwendigen Methoden ausführlich in seinem Bericht über die Expedition: Oberstes Ziel der Forscher war es, die Durchführung des Experimentes nicht als solches erscheinen zu lassen; es sollte vielmehr von den Versuchspersonen als natürliche Angelegenheit empfunden werden. Man wollte mögliches Misstrauen und damit erschwerte Untersuchungsbedingungen ausschließen.

So begannen die Experimente mit langen Gesprächen in vertrauter Umgebung (im sog. Teehaus oder am abendlichen Lagerfeuer) und erst nach einiger Zeit fing der Versuchsleiter an, speziell vorbereitete Fragen zu stellen, die den der Bevölkerung bekannten Rätseln ähnelten und deshalb als Fortsetzung des Gespräches aufgefasst wurden. Die Aufgaben waren für die Versuchspersonen sinnvoll, da sie in Bezug zu ihrem Leben standen. Zudem ließen sie mehrere Antworten zu. Die jeweiligen Antworten wurden nicht bloß registriert wie in damaligen Laborexperimenten üblich, sondern in einem sog. klinischen Gespräch weitergeführt, in dem die Versuchspersonen den Weg ihrer Lösung beschreiben sollten und in eine Diskussion darüber einstiegen. Der Erfolg der Untersuchungen hing vom Inhalt dieser Aufgaben ab. Um auch hier einem möglichen Misstrauen vorzubeugen, zeichnete nicht der Versuchsleiter selbst, sondern ein Assistent unbemerkt die Ergebnisse des Gespräches auf.

4.4.5 Beispiele

Ein Beispiel, bei dem die Unterschiede zwischen den beiden Hauptgruppen besonders charakteristisch ausfielen, beschreibt LURIJA (1993) in seiner Autobiographie:

Bei dem Versuch aus dem Bereich der Wahrnehmung sollten die Versuchsgruppen folgende geometrische Figuren bezeichnen und einordnen:

 

Die Mitglieder der ersten beiden Gruppen, bezeichneten diese Figuren als Gegenstände aus ihrem Alltag, wie z.B. als Teller, Armband, Zelt oder Perlenkette. Deshalb konnten sie auch keine Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Gebilden feststellen, da sich die Gegenstände im Alltag ja voneinander unterschieden (z. B. zwischen Kreis und halboffenen Kreis, die als Münze und Mond bezeichnet wurden).

Die meisten Versuchspersonen aus der zweiten Gruppe, die bereits elementare Bildung erfahren hatten, fanden hingegen geometrische Bezeichnungen für diese Formen und klassifizierten sie hinsichtlich ihrer gemeinsamen Merkmale.

Dieser Erkenntnis konnte die v.a. von den Gestaltpsychologen vertretene Annahme von einem „universellen Gesetz der Wahrnehmung" nicht mehr standhalten, das besagt, dass grundsätzlich nach idealen Eigenschaften einer „guten" Gestalt kategorisiert wird. Vielmehr wies dieses Beispiel darauf hin, dass die Klassifikation als historisch gewachsene Methode aufzufassen sei.

Darauf deutete auch die Beobachtung eines weiteren Versuches hin, dass die Menschen der ersten beiden Gruppen ähnliche Gegenstände nicht aufgrund eines gemeinsamen Merkmals oder Eigenschaft (z. B. alle Dinge, die aus Holz sind) sortierten, sondern Gegenstände in eine Kategorie brachten, die einem bestimmten Zweck dienten (LURIJA 1993). Kategorisiert wurde also bei den Analphabeten und denjenigen ohne Schulbildung allein aufgrund der jeweiligen praktischen Erfahrung.

Auch im Bereich der optischen Täuschungen traten wesentliche Unterschiede zwischen den Gruppen auf. Es zeigte sich, dass diejenigen Versuchspersonen, die unbeeinflusst von der wissenschaftlich-technischen Zivilisation waren, auf optische Täuschungen in einem weit geringerem Maße hereinfielen als diejenigen, die sich bereits mit dem Modernisierungsschub auseinandersetzten (MÉTRAUX 1994).

Auch optische Täuschungen konnten also nicht als universell für jeden Menschen bezeichnet werden. Man konnte nun vielmehr davon ausgehen, dass Täuschungsphänomene mit der Schulbildung und damit der technisch-industriellen Zivilisation zunehmen (MÉTRAUX 1988).

Die Folgerung für die heutige Zeit müsste demnach sein, dass wir im Technologiezeitalter diesen Täuschungen in einem noch höheren Maße erliegen, was ja auch im Hinblick auf Computeranimationen etc. nachvollziehbar ist.

4.4.6 Folgerungen

In beiden Expeditionen hatte Lurija akribisch genau eine Fülle an Daten gesammelt (COLE 1979b).

Einige der Schlussfolgerungen, die sich daraus ableiten ließen, seien im Folgenden kurz dargestellt.

Aus den Ergebnissen zog LURIJA (1993) v.a. im Hinblick auf die Funktion der Sprache den Schluss, dass sie (die Funktion) sich mit steigendem Bildungsniveau verändert. Die Sprache stand auch deshalb im Zentrum der Betrachtung, da die Untersuchungen ja alle mittels Sprache im freien Gespräch stattgefunden hatten. So hatten Begriffe für die ersten Gruppen die Funktion, praktische Beziehungen von Dingen zu bezeichnen und nicht die Funktion, Gegenstände begrifflich einzuordnen. Das hieß auch, dass abstraktes Denken hierbei keine Rolle spielte, zumal es ja in ihrem von der Praxis dominierten Leben nicht notwendig war. Anhand der Untersuchung der Beziehung des Menschen zur Sprache zog Lurija Rückschlüsse auf die kulturhistorische Bedingtheit der psychischen Prozesse:

„Neue gesellschaftliche Erfahrungen, neue Ideen und Bildung verändern die Beziehung des Menschen zur Sprache: Wörter werden zum Hauptinstrument der Abstraktion und Verallgemeinerung - zwei Fähigkeiten, die sich keineswegs als unveränderliche Standardkategorien jeder menschlichen Entwicklung bestimmen lassen" (LURIJA 1993, 87)

Lurija und seine Mitarbeiter folgerten daraus weiter, dass die Beziehung zur Sprache auch das Denken bzw. das Lernen beeinflusse. Denn die Fähigkeit zum komplexen logischen Denken hängt immer auch davon ab, inwieweit Denkleistungen auch unabhängig von den unmittelbaren praktischen Erfahrungen vollzogen werden können.

In Bezug auf das Lernen hieße das, dass der Erwerb neuer Kenntnisse über den verbal-logischen Weg nur dann Erfolg haben kann, wenn das Denken sich losgelöst hat von unmittelbar praktischen Erfahrungen.

Das soll aber nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass praktische Erfahrung logisches Denken ausschließt: Die Versuchspersonen konnten völlig richtige Urteil abgeben bzw. logische Schlüsse ziehen, jedoch nur, solange es um Tatsachen ging, die aus ihrer Erfahrung stammten (LURIJA 1993).

In diesem Zusammenhang sei auf die daraus resultierende Konsequenz für schulisches Lehren und Lernen hingewiesen, auch hinsichtlich der Verwendung von Konkretem und Abstraktem. Im letzten Kapitel des II. Teiles soll darauf noch einmal eingegangen werden.

Schließlich kann man feststellen, dass die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchungen immer das gleiche Grundmuster widerspiegelten: Veränderungen der praktischen Tätigkeitsformen, besonders durch Schulbildung, gingen mit qualitativen Veränderungen in den Denkprozesse der Menschen einher (LURIJA 1993). (Hier muss angemerkt werden, dass mit dieser Feststellung nicht gleichzeitig eine Wertung einhergehen sollte.)

Diese qualitative Veränderung lässt den Schluss nahe, dass psychische Prozesse umstrukturiert werden und nicht quantitativ erweitert (siehe 4.4.1).

Eine derartige Neuorganisation des Denkens kann allerdings bei entsprechenden Umständen in kurzer Zeit stattfinden (LURIJA 1993).

Dies hatte auch Konsequenzen für die Perspektive, unter der man diese vergleichenden ethnopsychologischen Forschungen betrachtete: Es ging nicht mehr wie bei anderen Forschergruppen um die Untersuchung „zurückgebliebener" Völker, sondern vielmehr um eine Psychologie der sich „entwickelnden" Völker, d.h. man konnte auf diese Weise der psychischen Entwicklung ein großes Potenzial zuschreiben (LURIJA 1986).

Ebenso wie bei den Untersuchungen zur Ontogenese wurde kein Teilaspekt der Entwicklung herausgegriffen und in verkürzter und statischer Weise analysiert. Vielmehr wurde die kulturhistorische Entwicklung unter dem Aspekt eines möglichen Potenzials gesehen, also, wenn man so will, als ganzheitliche Erscheinung in ihrer ganzen Prozesshaftigkeit.

Zudem ließen sich die aufgezeigten Besonderheiten in den Erkenntnisprozessen der einzelnen Gruppen auf kulturelle Bedingungen zurückführen und in keiner Weise auf biologische Minderwertigkeit (LURIJA 1986).

MÉTRAUX (1988) stellt letztendlich zusammenfassend fest, dass diese Ergebnisse eine Bestätigung der kulturhistorischen Hypothesen Lurijas zeigen, diese so eine ernstzunehmende Alternative zu den verkürzenden Ansätzen der modernen Psychologie darstellt, welche die Geschichtlichkeit des Psychischen zwar anerkennen, ihr aber nicht ihren wahren Stellenwert einräumen.

4.4.7 Zusammenfassung des Exkurses

  • Ziel der Expedition ist es, kulturhistorische Determinanten für die Entwicklung psychischer Prozesse aufzeigen zu können. Dadurch soll auch das Verständnis von Entwicklung als Erweiterung oder als strukturelle Umgestaltung geklärt werden.
  • Um diese Veränderungen untersuchen zu können, wählen Lurija und Wygotskij einen Kulturkreis, bei dem aufgrund gesellschaftlicher Umwälzungen zu jenem Zeitpunkt eine Bandbreite an unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichem Sozialisationsstatus vorzufinden ist. Die Wahl fällt auf entlegene Gebiete in Usbekistan und Kirgisien.
  • Die Bevölkerung lässt sich in fünf Gruppen einteilen, von denen die ersten beiden Gruppen analphabetisch sind und ein einfach strukturiertes Leben führen, dass sich in Kommunikationsweise und Weltanschauung etc. von den anderen unterscheidet, die bereits in einen gesellschaftlichen Wandel einbezogen sind.
  • Methodisch wählt man eine Synthese historisch und experimenteller Verfahren. Dabei soll die experimentelle Untersuchungssituation möglichst natürlich sein und nicht den Anschein eines Experimentes erwecken.
  • Eine der Haupterkenntnisse dieser Expedition ist es, dass Menschen je nach intellektueller Ausbildung und sozialhistorischer Handlungsanforderung andere Erkenntnisstrukturen aufweisen. Der Unterschied liegt in dem verschiedenen Charakter der sozialen Umweltfaktoren, der Rückschlüsse auf die Ausbildung zerebraler Organisationsformen wie das Denken etc. geben kann. Tiefgreifende Veränderungen der äußeren Lebenssituation rufen dabei rasch qualitative Veränderungen im Denkprozess hervor. Entwicklung wird als strukturelle Umorganisation verstanden, womit ihr größtmögliches Potenzial zugesprochen wird.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija; A. R. (1986): Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse. Weinheim
  • Lurija, A.R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek. 70 - 92

4.5 Reaktionen auf die Expedition

Die bahnbrechenden Ergebnisse, die aus der Expedition gewonnen werden konnten, stießen nicht bei allen auf positive Reaktionen, v.a. von politischer Seite. MÉTRAUX (1994) nimmt an, dass der Auslöser hierfür in einem Schreiben Lurijas nach Moskau lag, in dem er - voller Enthusiasmus - davon berichtet, dass die Usbeken keinen Wahrnehmungstäuschungen unterliegen (siehe 4.4.5). Ohne den Forschungskontext zu kennen, fasste man diese Botschaft als „Die Usbeken machen sich keinerlei Illusionen" auf (wegen des im Russischen zweideutigen Wortes „illjusija": Illusion; (Wahrnehmungs-) Täuschung) und unterstellte Lurija deshalb sogar eine rassistische Einstellung:

Obwohl Lurija klar die förderlichen Konsequenzen, welche die Kollektivierung mit sich brachte, herausstellte, sahen viele Kritiker in den gewonnenen Schlussfolgerungen der Expeditionen eine Beleidigung gegenüber den untersuchten Gruppen (COLE 1976). Man wollte jedoch alles verhindern, was die noch sehr schwache Teilnahme dieser Bevölkerungsteile am nationalen Leben hätte gefährden können. So wurde der bedeutende wissenschaftliche Gehalt dieser Expedition nicht beachtet.

Die Forschungen wurden vielmehr von der sog. Kontrollkommission als schädigend für den nationalen und kulturellen Aufbau Usbekistans eingestuft und ihre Ergebnisse als den Marxismus schädigend, pseudowissenschaftlich, reaktionär und klassenfeindlich bezeichnet, die den Schluss nahe legen, die Politik der Sowjetunion werde von primitiv denkenden Leuten gesteuert (MÉTRAUX 1994). Dieser Rundumschlag seitens der Regierung führte zu einer „schier mörderischen Kontroverse". Schon die zweite Exkursion wurde deshalb wesentlich von anderer Stelle, nämlich Charkow in der Ukraine, unterstützt. Lurija versuchte in einer Stellungnahme die kulturhistorische Theorie mit folgenden Argumenten zu verteidigen. Gleichzeitig fassen diese die Ergebnisse der Expedition noch einmal zusammenfassen. Nämlich,

  • „(1) dass die konkreten Denkformen im Gegensatz zu den abstrakten - ausschließlich auf rückständige Produktionsverhältnisse zurückzuführen seien, (2) dass sich die konkreten Denkformen unter bestimmten Bedingungen rasch auflösen, (3) dass sie sich im Prozess der sozialistischen Umgestaltung unverhältnismäßig rasch zu den höheren Denkformen weiterentwickeln, und (4) dass die Gesetze der Umgestaltung der Denkformen in der Ausarbeitung pädagogischer Programme unbedingt berücksichtigt werden müssten" (MÉTRAUX 1994, 25).

Zu dieser Zeit hatte A. R. Lurija in seinem Land noch kein wirkliches Forum für seine Sichtweise und seiner Verteidigung wurde wenig Verständnis entgegengebracht.

Wie MÉTRAUX (1994) anmerkt, besaß allein die Regierung die Definitionsmacht darüber, zu entscheiden, was als wissenschaftlich gelten konnte und was als unwissenschaftlich.

Es gilt zwar nicht als gesichert, ob das besagte Telegramm dazu führte, doch Lurija wurde im Spätherbst 1931 gezwungen, seine Dozentur am Psychologischen Institut in Moskau niederzulegen. Zudem wurde er als „Great-Russian Chauvinist" (GOLDBERG 1990, 3) gebrandmarkt, was im Hinblick auf die Tatsache, dass Lurija Jude war, ziemlich ironisch anmutete.

Allerdings hatte er zu dieser Zeit noch weitere Tätigkeiten in Moskau wahrgenommen, da LURIJA (1993) selbst davon berichtet, dass er ab dieser Zeit zwischen Moskau und Charkow hin und her pendelte. Dass er zusammen mit Wygotskij, Leontjew und anderen in der Ukraine an der dortigen Psychoneurologischen Akademie tätig war, ist unbestritten.

Doch die Kontroverse setzte sich fort und erlangte ihren Höhepunkt in einem sog. Dekret des Zentralkomitees der KPdSU gegen pädologische Perversionen im Jahr 1936.

In diesem wurde die kulturhistorische Psychologie für idealistisch erklärt, was als Gegensatz zum vorherrschenden Materialismus und damit als schlimmste Anschuldigung im sowjetpolitischen Jargon der damaligen Zeit galt (GOLDBERG 1990). Dies hatte zur Folge, dass unter die kulturhistorischen Forschungen ein vorläufiger Schlussstrich gezogen wurde. In diesem Zusammenhang wird auch von der sog. Anti-Pädologie-Kampagne gesprochen. Vor allem Wygotskij fiel dabei zwei Jahre nach seinem Tod 1934 in politische Ungnaden. Lurija hat sich ihm gegenüber jedoch sein Leben lang loyal erwiesen und war auch über dessen Tod hinaus darauf bedacht, sein Werk in Erinnerung zu halten. Sobald es das politische Klima erlaubte, bewerkstelligte er in den späten 60er Jahren die Veröffentlichung der gesammelten Schriften L. S. Wygotskijs.

Eine weitere Auswirkung des wissenschaftlichen Streits führte dazu, dass die Ergebnisse der Expeditionen erst 42 Jahre später auf Betreiben COLES (1976) hin in der vorliegenden Monographie („Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse" (Deutsch 1986)) veröffentlicht wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte Lurija diese und andere Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit jedoch in der angelsächsischen Literatur publizieren und auf internationalen Kongressen darlegen, was ihm außerhalb Russlands ab den 60er Jahren und v. a. in den 80ern bedeutendes Ansehen verschaffte.

Die Kehrseite der Medaille stellte das dadurch wiederum wachsende Misstrauen durch die regierende kommunistische Partei dar. Die Rolle der Politik führte im Bereich der Wissenschaft zu Restriktionen und der Gefahr der Dogmatisierung (PICKENHAIN 1994). Spätestens hier dürfte man annehmen, dass die anfängliche durch den politischen Wechsel heraufbeschworene Euphorie einer immer stärker werdenden Verdrossenheit, heraufbeschworen durch die stalinistische Ära, gewichen sei, doch Lurija setzte seine Arbeit, zwar in einem anderen wissenschaftlichen Bereich und unter anderer Perspektive, unbeirrt mit großer Überzeugung fort.

Mehrere Autoren (u.a. LIST 1994, SACKS 1994) bewerten diese Geschehnisse um die stalinistischen Restriktionen und den 1934 hinzukommenden frühen Tod Wygotskijs an Tuberkulose als Wendepunkt in Lurijas Leben. Er markiert die vorläufige Aufgabe des Planes der Erneuerung der Psychologie durch die kulturhistorische Schule, und damit auch das Ende eines Jahrzehntes fruchtbarer Arbeit in der Troijka. Doch er führt gleichzeitig in ein neues Gebiet, das die zweite Hälfte des wissenschaftlichen Lebens Lurijas ausmachen sollte und für das Lurija letztendlich berühmt geworden ist.

 

4.6 Bedeutung und Tragweite der kulturhistorischen Theorie

Die Vorstellung, dass das Psychische nicht als in sich geschlossene und von Natur und Kultur unabhängige Größe zu begreifen ist, ist heute schon selbstverständlich dieser Idee gewichen, dass das Psychische von seinen Entwicklungsprozessen und seiner geschichtlichen Bestimmtheit her verstanden werden muss.

Der Verdienst der Troijka war es „eine komplexe Psychologie aus einem Guss, eine Psychologie, die sich um die Sprache als anthropologische Qualität mit allen Facetten sammelt" (LIST 1994, 90), zu entwickeln.

MÉTRAUX (1986, 1994) betont in seiner Würdigung v.a. den interdisziplinären Gedanken der kulturhistorischen Schule, deren Grundaussage über die Grenzen der Psychologie hinaus auch in Disziplinen wie der Linguistik, Soziologie, sozialen Anthropologie oder der Heilpädagogik zur Entwicklung neuer Ansätze geführt hat. Zudem gingen alle Arbeiten in den Grundbestand der psychologischen Erkenntnis ein, d. h. sie wurden in die Weiterentwicklung dieser Wissenschaft miteinbezogen.

Das Gedankengut der kulturhistorischen Theorie wurde im Laufe der Zeit noch einmal in drei entscheidenden Büchern der Mitglieder der Troijka versammelt: WYGOTSKIJS „Denken und Sprechen" (1934; 1993), LEONTJEWS „Probleme der Entwicklung des Psychischen" (1959; 1972) und schließlich LURIJAS „Sprache und Bewusstsein" (1979; 1982) haben allesamt hohes Ansehen erlangt und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

COLE betont zudem die Bedeutung der kulturhistorischen Schule für Lurijas weiteres Schaffen: „...all of his later research and theory can not be properly understood if his commitment to the idea of cultural psychology is ignored" (COLE 1990, 12).

 

4.7 Zusammenfassung

  • Die Forschungen der Troijka folgen drei Grundlinien der Verhaltensentwicklung, denen die Genese der höheren psychischen Funktionen übergeordnet ist: das sind die Phylogenese, die Soziogenese und die Ontogenese. Diese sollen dem Anspruch eines umfassenden psychologischen Ansatzes genügen, der die Entwicklung des Menschen und damit einhergehend seiner psychischen Prozesse im Ganzen sieht und nicht Teilaspekte ohne Zusammenhang herausgreift und analysiert.
  • Bei der Untersuchung der Entwicklung psychischer Funktionen werden die Mittel untersucht, die eine Beziehung zwischen Organismus und Umwelt ermöglichen.
  • Im Rahmen der Forschungen zur Ontogenese führt Lurija Untersuchungen mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen durch mit dem Ziel, hinter den Einfluss von genetischen und sozialen Faktoren zu gelangen, den sie auf die Entwicklung psychischer Funktionen haben. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Einfluss biologischer Faktoren mit fortschreitender Entwicklung des Kindes abnimmt, hingegen die sozialen Faktoren an Bedeutung gewinnen und eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung höherer psychischer Funktionen spielen.
  • Der Sprache als Instrument der sozialen Kommunikation kommt bei der Entwicklung eine große Bedeutung zu. Lurija versucht in Experimenten mit Zwillingen und Kindern mit und ohne Behinderung, die Hypothese zu belegen, dass der Sprache eine Steuerungsfunktion hinsichtlich des Verhaltens und Denkens zukommt.
  • Der zentrale Begriff der Interiorisation spiegelt dabei die Auffassung von der Entwicklung höherer psychischer Funktionen wie Sprache oder Handlung wider: Zunächst haben diese Funktionen interpsychischen Charakter. Das Kind ist in seiner Entwicklung auf seine Umwelt angewiesen. Nach und nach wird die aufgebaute Beziehung zu ihr verinnerlicht, also interiorisiert. Handlung und Sprache des Kindes erhalten intrapsychischen Charakter (geistige Handlung, inneres Sprechen). Es steuert nun sein Verhalten selbst.
  • Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeiten der kulturhistorischen Schule ist die Untersuchung des kulturhistorischen Aspektes der Entwicklung des Psychischen (Soziogenese). Da diesbezüglich wenig Daten vorliegen und um den kulturhistorischen Ansatz konsequent mit dem Anspruch der Verknüpfung von Theorie und Praxis durchführen zu können, planen Lurija und Wygotskij eine Expedition in entlegene Gebiete Usbekistans und Kirgisiens, die sich gerade in einem Zustand großer gesellschaftlicher Umwälzungen befinden. Diese Expedition wird in einem Exkurs (4.4) näher erläutert.
  • In Russland stoßen die Ergebnisse der Expedition, die den kulturhistorischen Ansatz bestätigen, auf Ablehnung seitens der Regierung, da man ihr rassistischen und antimarxistischen Hintergrund unterstellt. Lurija verliert in der daraus folgenden Kontroverse seine Dozentenstelle am Psychologischen Institut in Moskau und kann erst 42 Jahre später Ergebnisse der Expedition in einer Monographie veröffentlichen.
  • In der sog. Anti-Pädologie-Kampagne wird von politischer Seite ein Schlussstrich unter kulturhistorische Forschungen gesetzt. Jedoch ist dieser Ansatz als komplexe Psychologie und hinsichtlich seiner interdisziplinären Ausweitung in jeder Hinsicht zu würdigen. Er findet, wenn auch nicht so offenkundig, auch im weiteren (neuropsychologischen) Schaffen Lurijas seinen Niederschlag.

 

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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