Alexander R. Lurija - Biographie

5. Anfänge der Neuropsychologie

Schon während der Arbeit in der Troijka aber vor allem in der Zeit nach Wygotskijs Tod 1934 begann Lurija, ein neues Feld der Untersuchungen zu beschreiten, das an der Schnittstelle zu medizinischen Bereichen der Physiologie und Neurologie und zur Psychologie lag: Das Gebiet der Neuropsychologie.

Lurija verlagerte den Untersuchungsgegenstand und orientierte sich nicht mehr primär an der kulturpsychologischen Problematik, machte also nicht mehr den Entwicklungsaspekt des Psychischen bzw. vergleichende ethnopsychologische Untersuchungen zum Gegenstand seiner Forschungen.

Für diesen Wendepunkt in Lurijas Karriere, seine Zuwendung zur Neuropsychologie, gibt es nach GOLDBERG (1990) zwei Erklärungsmöglichkeiten, eine wissenschaftliche und eine pragmatische:

Zum Einen hatten Lurija und Wygotskij schon im Rahmen ihrer kulturhistorischen Forschungen mit Hirnverletzten, v.a. mit Aphasiepatienten gearbeitet, um ihre grundlegenden Hypothesen zu überprüfen, die den Zusammenhang zwischen Denken und Sprache betraf. Durch die Untersuchung der Gruppe von Hirnverletzten stießen sie letztendlich auf eine wertvolle Methode, um über diesen Weg Einblicke in die normale Struktur psychischer Prozesse zu gewinnen.

Zum Anderen waren die Wissenschaften in der Sowjetunion vermehrt dem politischen Druck ausgesetzt und ideologisch besetzt, d.h. wissenschaftliche Theorien wurden nicht nach ihrem wissenschaftlichen, sondern nach ihrem ideologischen Gehalt beurteilt. Die Anschuldigung, idealistisch (als Gegenteil von materialistisch)zu sein, hing somit wie ein Damoklesschwert über Karriere und Leben eines jeden Wissenschaftlers. Doch Sozial- und Verhaltenswissenschaften, wie die kulturhistorische Schule sie betrieb, waren noch angreifbarer hinsichtlich einer ideologischen Zensur als Naturwissenschaften, bei denen kein unmittelbarer Bezug zur Bildungspolitik und Minderheitenproblematik hergestellt werden konnte. Das hatte Lurija ja bereits am eigenen Leib bei seinen kulturvergleichenden Studien erfahren müssen.

  • „Although none was totally secure (...), natural sciences were allowed more breathing space than explicitly social sciences and the humanities" (GOLDBERG 1990, 4).

Wahrscheinlich haben beide Beweggründe, sowohl der wissenschaftliche als auch der pragmatische, eine Rolle am Wendepunkt von Lurijas Karriere gespielt.

Denn bedenkt man die oben aufgeführte Stellung Lurijas in seinem Land zur damaligen Zeit scheinen diese politischen Beweggründe durchaus nachvollziehbar. So stellte diese wissenschaftliche Umorientierung eine Möglichkeit für ihn dar, seinem Ansatz und dem Wygotskijs unter dem Deckmantel dieser vordergründig unpolitischen Thematik treu bleiben zu können.

Doch auch diesem Forschungsbereich sollte von politischer Seite mit Argwohn und negativen Konsequenzen begegnet werden, was weiter unten kurz ausgeführt wird.

In jene Zeit fällt auch die Heirat Lurijas mit seiner zweiten Frau Lana 1933, mit der er bis zum Ende seines Lebens 44 Jahre lang zusammenlebte und die ihm - wie seine Tochter Elena später betont (LURIJA, E 1991) - entscheidend half, schwierige Zeiten zu überstehen. Auch sie war Wissenschaftlerin, Professorin für Biologie.

 

Wie oben erwähnt interessierte Lurija nicht nur die Entwicklung, sondern er sah auch für unerlässlich, den umgekehrten Weg, den Zerfall höherer psychischer Funktionen, in die Untersuchungen mit einzubeziehen, um daraus Aufschlüsse über deren Aufbau erhalten zu können. Er betrachtete dabei die Untersuchung des Zerfalls höherer psychischer Funktionen als Gegenstück zur Entwicklungsforschung (LURIJA 1993).

Lurija ging dabei von dem von Wygotskij formulierten Prinzip aus, dass eben dieser Zerfall der psychischen Funktionen als Mittel dient, dieselben zu analysieren, weil durch den Ausfall Rückschlüsse auf den Aufbau und die Grundlagen sichtbar werden (LURIJA 1984).

Ein Beispiel hierfür lieferte der Zerfall der psychischen Funktion „Sprache", der in der kulturhistorischen Theorie eine zentrale Stellung als Werkzeug zukommt. Schon in den späten zwanziger Jahren beschäftigte Lurija sich mit dem Problem der Aphasie. Verallgemeinernd lässt sich hierzu sagen, dass er durch die Beschreibung der charakteristischen Störungen der Sprache deren Organisation zu erklären versuchte, was ihm gelang und ihn intensiv auf die Neuropsychologie einstimmte.

Der Bereich der Aphasie stellt zwar einen umfassenden Forschungsbereich bei Lurija dar, doch darauf soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden, da sie andere Aspekte im Werk A. R. Lurijas wie seine Theorie der funktionellen Systeme (siehe Teil II dieser Arbeit) hervorheben will. Deshalb sei für Interessierte auf die im Anschluss angegebene weiterführende Literatur verwiesen.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R.(1968): Traumatic aphasia. The Hague: Mouton
  • Lurija, A. R.(1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek
  • Lurija, A. R. (1998): Das Gehirn in Aktion. Reinbek. 307 - 327

 

5.1 Arbeitsstationen und wissenschaftliche Neuorientierung Lurijas

Aufgrund dieser Interessenlage entschloss sich Lurija, sein in Kasan abgebrochenes Medizinstudium wiederaufzunehmen (wahrscheinlich zum Stolz seines Vaters, Roman Albertovic, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hat).

SACKS (1994) nennt hierzu noch einen weiteren möglichen Beweggrund: Lurija durfte zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner kulturhistorischen Studien keine Psychologie mehr unterrichten und war zudem unschlüssig, wie er sich als Wissenschaftler verhalten sollte, so dass ein Medizinstudium zu jenem Zeitpunkt eine Art Neuanfang für ihn darstellte.

Auch Wygotskij begann, Medizin zu studieren, starb jedoch kurz darauf.

Wie schon an anderer Stelle erwähnt war Charkow in der Ukraine zu einer zweiten Forschungsstation geworden, was kulturhistorische Studien betraf (siehe 4.5). Anfang der dreißiger Jahre bekam Lurija die Möglichkeit, sein im Medizinstudium gewonnenes Wissen in Charkow in der Praxis anzuwenden (COLE 1979b). Unter der Schirmherrschaft der Ukrainischen Akademie für Psychoneurologie war in demselben Institut ein neuer Fachbereich für Psychologie gegründet worden.

In diesem Zusammenhang bewertet MÉTRAUX (1994) es als biographisch bestimmend, dass der Begründer dieses neuen Fachbereiches, ein gewisser Neurologieprofessor namens Rochlin, Lurija anbot, Studien zur Defektologie bzw. zu neurologischen Ausfällen weiterzuführen. Dies kam seiner damaligen Interessenlage sehr entgegen und war entscheidend für die berufliche Weiterbildung Lurijas.

Das nun beginnende Doppelleben zwischen Moskau und Charkow dauerte bis 1936, als er endgültig nach Moskau zurückkehrte. In dieser Zeit führte er seine wissenschaftlichen Arbeiten konsequent fort und arbeitete neben dem Institut für Experimentelle Medizin in Moskau, an dem er studierte, immer noch am Krupskaja-Institut für kommunistische Erziehung und bis zu dessen Schließung am Medizinisch-Genetischen Institut (PICKENHAIN 1994). Er brauchte sich also trotz seiner Entlassung vom Psychologischen Institut nicht arbeitslos zu fühlen. Im letzteren Institut führte Lurija die besagten Zwillingsstudien durch.

Ab 1936 konzentrierte er sich ausschließlich auf sein Studium am Institut für Experimentelle Medizin und schloss es 1937 ab (LURIJA 1993). Im Anschluss daran wurde er Assistenzarzt bei N. N. Burdenko, dem Leiter des Neurochirurgischen Instituts der Akademie der Medizinischen Wissenschaften der UdSSR. Die zwei Jahre, die er dort arbeitete, bezeichnet Lurija als die fruchtbarsten seines Lebens, da er außer seiner medizinischen Alltagsarbeit keinen anderen Verpflichtungen nachkommen musste und sich seinen Forschungen widmen konnte.

Er wollte dort als praktischer Neurologe neuropsychologische Verfahren zur Diagnostik lokaler Hirntraumen entwickeln (NEUMÄRKER/BZUFKA 1987). 1939 war es ihm schließlich möglich, ein eigenes psychologisches Labor am Institut für experimentelle Medizin einzurichten und zu leiten. Diese insgesamt vier Jahre charakterisiert Lurija als ersten wesentlichen Abschnitt seiner Arbeit in der Neuropsychologie.

Als biographisch bedeutend sei noch anzumerken, dass Lurija während dieser Zeit zwei medizinische Doktorengrade erlangte, den einen 1937, den anderen 1943 (PICKENHAIN 1994).

 

5.2 Genese der Neuropsychologie Lurijas

Wie wichtig Alexandr R. Lurijas „Wandlung" zu einem Neuropsychologen für seine Karriere war, ist nach COLE (1979b) geradezu unmöglich zu beurteilen. Dagegen gibt es keinen Zweifel daran, dass Lurija von Anfang an diese neue Aktivität als eine weitere Ausdehnung der kulturhistorischen Theorie hinein in ein neues empirisches Gebiet angesehen hat.

Was an diesem Wendepunkt in seinem Leben geschah, war die Migration von dem institutionell festgelegten Gebiet der Psychologie zu dem anderen festgelegten der Medizin, d.h. mit ihm selbst brachte Lurija auch seine psychologisch geprägten Ideen, Erwartungen und seine Ansätze in das Gebiet der Medizin ein (MÉTRAUX 1994). Von dieser Position aus suchte er in seinen Arbeitsstellen nach neuen Wegen, welche die Wissenschaften Psychologie und Medizin, insbesondere die Neurowissenschaften, da Lurija vornehmlich in diesem Bereich arbeitete, vereinen konnten. Als Neuropsychologe musste er nun, wenn man so will, in einer anderen wissenschaftlichen Sprache sprechen, die aber nur die für ihn selbe Wirklichkeit auf eine andere Weise verschlüsselte. Inhaltlich wird auf diese wissenschaftliche Sprache im II. Teil eingegangen werden.

5.2.1 Wissenschaftler und Kliniker

Mit diesem Wechsel des Fachgebietes ging einher, dass LURIJA (1993) sich mit der unterschiedlichen Herangehensweise eines Wissenschaftlers und eines Klinikers, der er nun war, auseinandersetzen musste. Der Wissenschaftler hat ein genau formuliertes Problem vor Augen, stellt eine Hypothese auf und versucht, mit bestimmten Methoden diese zu überprüfen. Er geht dabei deduktiv vor, d.h. er leitet das Besondere, also das Problem, vom Allgemeinen ab.

Ein Kliniker dagegen hat den Kranken selbst zum Ausgangspunkt und mit ihm einen Komplex von Problemen, deren Daten er alle prüfen muss, d.h. er muss alle Symptome miteinbeziehen, um ein möglichst ganzheitliches Bild der Krankheit zu bekommen und das Syndrom feststellen zu können. Er geht also induktiv vor, er schließt vom Einzelnen (dem Patienten) zum Allgemeinen (dem Syndrom). Zur Veranschaulichung seien diese unterschiedlichen Herangehensweisen noch einmal gegenübergestellt:

 Wissenschaftler/experimentelle
Forschung
Kliniker
AusgangspunktIsolieren eines ProblemsUnbekannter Komplex von Problemen: der Kranke selbst
Herangehensweise an ein Problem- Aufstellung einer Hypothese
- Wahl einer geeigneten Methode zur Überprüfung derselben 
- nur Einbezug jener Daten, die zur Bestätigung/ Widerlegung der Hypothese beitragen
- Sorgfältige Beobachtung
- Einbezug aller verfügbaren Daten (Tatsachen)
- Bildung von Annahmen
ZielBestätigung /Widerlegung der aufgestellten Hypothese- Sammlung einer ausreichenden Zahl zueinander passender Symptome -> Syndrom
- Bestätigung/ Widerlegung der Annahme -> Diagnose 
- Behandlung

Tab. 2: Gegenüberstellung Wissenschaftler/ Kliniker

Die wesentliche Fähigkeit, die Lurija in dieser Gegenüberstellung dem Kliniker zuschreibt, nämlich die des guten Beobachtens im Zuge der Diagnostik, der Einschätzung des Krankheitsverlaufes und der Behandlung, sieht er im Rückblick immer mehr verschwinden. Dagegen besteht auch heute noch die Gefahr, die auch Lurija formuliert, sich bei der klinischen Beurteilung zum Sklaven der Apparate-Analysen zu machen (LURIJA 1993).

Dies entspräche auch seiner kritischen Auffassung gegenüber einem blinden Vertrauen auf normierte Tests, die nicht ausreichen, um das Wesen des Einzelnen umfassend erfassen zu können. Er entwickelte zwar auch selbst Tests zur Erfassung kognitiver Leistungen, doch war ihm dabei wichtig, diese Tests im Kontext der individuellen Lebensgeschichte des jeweiligen Patienten zu bewerten (SACKS 1993).

Im Kapitel „Romantische Wissenschaft" wird auf diese Gegenüberstellung und ihre Bedeutung für die Wissenschaft in erweiterter Form eingegangen. Schon hier lässt sich anmerken, dass Lurija gerade durch den Kliniker, der er nun war, zum Stil der Romantischen Wissenschaft gelangt ist.

Ein weiterer Wendepunkt in seinem Leben stellte schließlich der Zweite Weltkrieg dar, der seine Arbeit in eine neue Richtung lenkte.

5.2.2 Neuropsychologie während des Zweiten Weltkrieges

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erforderte die Anpassung der Arbeit Lurijas an eine neue Situation:

  • „Die Orientierung an einem gemeinsamen Ziel hatte das sowjetische Volk bereits während der Oktoberrevolution und in den Jahren danach zusammengeschlossen. Diese Verbundenheit wurde nun in anderer Form wiedererweckt. Ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung erfasste das ganze Land. Jeder von uns hatte in diesem Kampf seinen Platz einzunehmen (...)" (LURIJA 1993, 141).

A. R. Lurija musste nun sein Wissen und Können in eine Notsituation einbringen, die in vielerlei Hinsicht organisiert werden musste und in Lurijas Tätigkeitsbereich die Wiederherstellung von Gesundheit und die Rehabilitation von Verwundeten erforderte.

Unter der Leitung seines ehemaligen Vorgesetzten N. N. Burdenko, der zum Chefchirurgen der Roten Armee ernannt worden war, erhielt Lurija den Auftrag, im Ural, in Kisegatsch in der Nähe der Stadt Tscheljabinsk ein Rehabilitationshospital zu errichten (LURIJA 1993).

Lurijas Frau Lana arbeitete im gleichen Hospital als Hilfskrankenschwester, da sie als Biologin im Krieg nicht gebraucht wurde. Später hatte sie - den Angaben ihrer Tochter zufolge (LURIJA, E 1991) - eine Stellung in einem histologischen Labor.

Zusammen mit anderen Psychologen wie B. W. Zeigarnik, A. W. Saporoshez oder S. L. Rubinstein und insgesamt dreißig Mitarbeitern baute er ein wissenschaftliches Zentrum auf, das ihre Arbeit im Ural begleiten sollte.

Die Aufgabe, die sie dort erwartete, teilte sich in zwei Bereiche (LURIJA 1993):

  • Die Entwicklung einer Methode zur Diagnose lokaler Gehirntraumen
  • Die Ausarbeitung einer Methode zur Rehabilitation gestörter psychischer Funktionen

Mit dem letzten Aspekt beschritt Lurija neue Wege, da es alten neurologischen Konzepten aufgrund ihrer Auffassung von den Hirntätigkeiten unmöglich erschien, diese rehabilitieren zu können.

Die Arbeit in diesem Speziallazarett für Hirnverletzte belief sich dem Autor zufolge auf drei Jahre (LURIJA 1993). Paradoxerweise eröffneten sich Lurija in dieser Tragödie des Krieges Möglichkeiten, die unter normalen Umständen nicht zu erwarten gewesen wären. Durch die erschreckend häufig auftretenden Kopfverletzungen konnte er eine Fülle an Daten zur Erforschung des Zusammenbruchs geistiger Funktionen sammeln. Es wurden systematische Untersuchungen durchgeführt, die sich mit Störungen und Ausfällen psychischer Funktionen aufgrund von Hirnverletzungen befassten. Ziel war es, in der Diagnose zu analysieren, welche Teile des Gehirns und seiner Funktionen geschädigt undwelche unbeeinträchtigt geblieben waren. Daraus wurden dann umfassende Rehabilitationsmaßnahmen abgeleitet.

Diesen lag die Überlegung zugrunde, dass eine Reorganisation der Funktionsfähigkeit des Gehirns möglich war, welche die durch die zerstörten Bereiche gestörten psychischen Funktionen z. B. im Bereich der Sprache oder der Planung etc. zu kompensieren vermochten (LURIJA 1993).

Hier nahm die Idee von funktionellen Systemen, denen bestimmte Hirnregionen zugeordnet sind, und die Möglichkeit ihrer Reorganisation Gestalt an, eine Theorie über die bis hierhin als unmöglich erachtete Rehabilitationsmöglichkeit kortikaler Funktionen. Konkret heißt dies, dass die Tätigkeiten, ob psychische oder physische, sich auf ein neues System umstellen mussten. In diesem Zusammenhang darf der überwiegend von LEONTJEW (1960) entwickelte Tätigkeitsansatz nicht unerwähnt bleiben, der grob besagt, dass Rehabilitation z.B. von Extremitäten bei Entfremdungen („inneren Amputationen") derselben vom Körper stets eine (aktive) Handlung des Patienten voraussetzt, durch die das jeweilige Körperschema wieder von neuem subjektiv angeeignet werden kann.

Inhaltlich kann allerdings an dieser Stelle nicht weiter in die Tiefe gegangen werden, da die neuropsychologischen Grundlagen und die Auffassung Lurijas über die Funktionsweise des Gehirns erst im zweiten Teil dargestellt werden sollen.

Im Zentrum stand also die Rehabilitation, wobei sich Lurija überwiegend auf die großen Bereiche der Störungen der Sprechfähigkeit, also Aphasien, und der Denkstörungen konzentrierte. LURIJA (1993) berichtet von der Rehabilitationsarbeit mit Tausenden von Kranken, deren weitere Beobachtung noch viele Jahre in Anspruch nahm. Zentral war dabei wiederum die enge Verbindung von Theorie und Praxis in seiner Arbeit: Die Theorie der Diagnostik und die Praxis der Rehabilitation, die sich entsprechen sollten. In dieser Zeit lernte Lurija auch den Offizier Sassezkij kennen, den Mann dessen Welt aufgrund einer schweren Hirnverletzung in Scherben ging und mit dem er über 25 Jahre in Kontakt stehen sollte. Auf seine in einer von Lurijas berühmten Fallgeschichten festgehaltene Persönlichkeit wird in Kapitel 6.2 noch näher eingegangen werden.

Weiterführende Literatur:

  • Leontjew, A. N. /Saporoshez, A. V. (1960): Rehabilitation of Hand Function. New York
  • Lurija, A. R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek.

5.3 Abriss über die Tätigkeiten Lurijas nach dem Krieg

Nach Beendigung des Krieges hatten sich die Kenntnisse über den Aufbau der höheren psychischen Prozesse und über die Rolle der einzelnen Hirnregionen bei der Ausführung dieser Aktivitäten erweitert (LURIJA 1993).

Aus der Erforschung der zentralnervösen, physiologischen und anatomischen Grundlagen psychischer Prozesse hatte sich ein neues Wissenschaftsgebiet formiert, das zum Ziel hatte, den Zusammenhang zwischen Psyche und dem Zentralnervensystem (ZNS), also zwischen Hirnorganik und Verhalten herauszuarbeiten: Die Neuropsychologie.

Die Entwicklung und Beschäftigung mit dieser Wissenschaft sollten die letzten Jahrzehnte im Leben A. R. Lurijas ausfüllen. Er gilt als Begründer dieses Wissenschaftszweiges.

Nach dem Krieg arbeitete er wieder am Burdenko-Institut für Neurochirurgie, wo er allerdings aufgrund der Umwälzungen im Land und inhaltlicher Kontroversen 1950 entlassen wurde (COLE 1979b).

Aus seiner Bibliographie (JANTZEN/BRAEMER 1994) geht in diesem Zusammenhang hervor, dass Lurija sich dabei auch mit Themen der Lern- und der geistigen Behinderung auseinander setzte, so z. B. mit den Prinzipien der Auswahl von Kindern für die Hilfsschulen oder mit Themenbereichen über die normale und anormale Entwicklung von Kindern mit und ohne Behinderung. Die ins Deutsche übersetzten Veröffentlichungen zu diesem Thema sind in der weiterführenden Literatur angegeben.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R. (1992): Die regulierende Rolle der Sprache in der normalen und anormalen Entwicklung. In: Jantzen, W./Holodynski, M.: Studien zur Tätigkeitstheorie VII. A. R. Lurija heute. Bremen. 176 - 186
  • Lurija, A. R. (1992): Ein dynamischer Erklärungsansatz bezogen auf die geistige Entwicklung bei gestörten Kindern. In: Jantzen, W./Holodynski, M.: Studien zur Tätigkeitstheorie VII. A. R. Lurija heute. Bremen. 235 - 258

5.4 Lurija als wissenschaftlicher Außenseiter

COLE (1979b) bezeichnet die 50er Jahre als die turbulentesten in Lurijas Leben, in dem er soziale und wissenschaftliche Einschränkungen erfahren musste. Seine großen Verdienste während des Zweiten Weltkrieges bei der Behandlung von Hirnverletzten konnten nicht verhindern, dass er bei den politischen Instanzen immer mehr in Ungnade fiel.

Der Grund hierfür lag darin, dass er die von der Regierung zum Dogma erklärte Lehre Pawlows nicht zur Grundlage einiger seiner Arbeiten gemacht, sondern vielmehr die diesen kritisierenden neurophysiologischen Konzeptionen P. K. Anochins und N. A. Bernsteins zum Ausgangspunkt seiner Forschungen gemacht hatte (PICKENHAIN, 1994).

Auf einer Pawlow-Tagung wurde Lurija sogar von der KPdSU des Anti-Pawlowismus bezichtigt und gezwungen, seine Arbeiten über die „Traumatische Aphasie" und die „Wiederherstellung von Hirnfunktionen nach einem kriegsbedingten Trauma" als wissenschaftlich falsch zu bezeichnen. Doch trotz dieses politischen Drucks setzte Lurija seine Arbeit fort und blieb seiner wissenschaftlichen Linie treu, bei der er jegliche Reduktion komplexer menschlicher Verhaltensformen auf vereinfachte mechanistische Schemata, die er in Pawlows Arbeiten sah, entschieden ablehnte (SACKS 1994).

 

Betrachtet man jedoch die Titel der Veröffentlichungen Lurijas zu dieser Zeit, so sticht der Zusatz „im Lichte der Theorien I. P. Pawlows" des öfteren ins Auge. Dies deutet zum einen auf eine intensive Auseinandersetzung Lurijas mit den Schriften Pawlows hin, was ihn ja letztendlich zu seiner fundierten Kritik an jenem brachte. Zum anderen ist es jedoch eher als Geste dem politischen System gegenüber zu beurteilen. Er konnte es sich trotz seiner standhaften Überzeugung nicht erlauben, die Lehre Pawlows direkt zu kritisieren. Doch in einem (unveröffentlichten) Brief an Sacks bekennt er: „Ich bin in Tat und Wahrheit ein Schüler Vygotskijs, des wirklichen Genies der sowjetischen Wissenschaft" (LURIJA, o.A.; zit. n. SACKS 1994, 114).

SACKS (1994) weist in diesem Zusammenhang auch auf die tatsächliche Bedeutung der Bezichtigung zum Anti-Pawlowismus hin: Sie zog eine zweimalige berufliche Vernichtung (1931, 1950) Lurijas nach sich und damit den offiziellen Ausschluss aus dem wissenschaftlichen Leben. So wurde er in die Rolle eines Außenseiters gedrängt. Doch wie bereits erwähnt führten gerade diese Einschnitte zu einem vielversprechenden beruflichen Neuanfang.

Aufgrund seines weiter wachsenden internationalen Ansehens und des hohen Gehaltes seiner wissenschaftlichen Arbeit war es ihm dennoch möglich, weiterzuarbeiten. Und so bezeichnen MÉTRAUX/VELICKOVSKIJ (1986) sein Tun ab den späten 50er Jahren als die produktivste Periode in seiner wissenschaftlichen Karriere. Lurija arbeitete zu jener Zeit wieder am Burdenko-Institut für Neurochirurgie und unterrichtete ab 1966 wieder an der Psychologischen Fakultät der Universität von Moskau.

Wie aus einem Vortrag von Lurijas Tochter zu entnehmen ist (LURIJA, E. 1991), lockerte Stalins Tod die politische Situation, was zur Folge hatte, dass der wissenschaftliche Austausch zwischen Ost und West vorangetrieben wurde. So besuchte beispielsweise Jean Piaget in den 60er Jahren Moskau und nahm an einer wissenschaftlichen Konferenz teil. Lurija selbst fuhr 1960 nach Amerika, um dort mit Jerome Bruner und anderen Wissenschaftlern, mit denen Lurija befreundet war, zusammenzutreffen.

Alexandr R. Lurija blieb sein ganzes Leben der Wissenschaft treu und starb schließlich 1977 im Alter von 75 Jahren nach kurzer Krankheit in Moskau (MÉTRAUX 1993a).

 

5.5 Zusammenfassung

  • Nicht nur der Aspekt der Entwicklung höherer psychischer Funktionen, sondern ebenso ihr Zerfall ist für Lurijas Forschungsarbeit von großem Interesse, da gerade dieser Aufschlüsse über den Aufbau psychischer Funktionen bringen soll. Von medizinischer Seite fehlt ihm dazu allerdings das notwendige Wissen.
  • Deshalb nimmt er sein Medizinstudium wieder auf und arbeitet am Psychoneurologischen Institut in Charkow, wo er sein Wissen in die Praxis umsetzen kann. Nach dem Studium wird er 1937 Assistenzarzt am Neurochirurgischen Institut unter Burdenko.
  • Wichtig hierbei ist, dass er seine psychologisch geprägten Ansätze mit in die Medizin transportiert und somit eine andere Basis hat als ein „reiner" Mediziner.
  • Zudem unterscheiden sich nun seine Arbeitsmethoden grundlegend: leitete er als psychologischer Wissenschaftler ein Problem eher deduktiv ab, so ist es nun seine Aufgabe, vom besonderen Patienten induktiv unter Einbezug aller möglicher Daten auf sein Syndrom zu schließen.
  • Im zweiten Weltkrieg ist es v.a. Lurijas Aufgabe, Diagnostik und Rehabilitation bei lokalen Gehirntraumata durchzuführen. Dabei geht er von einer grundsätzlichen Kompensationsfähigkeit des Gehirns aus. Lurija sammelt eine Fülle von Daten, mit Hilfe derer er letztendlich seine Theorie über die Funktionsweise des Gehirns entwickelt als Organisation von funktionellen Systemen.
  • Nach dem Krieg erfolgt die Ausarbeitung des Wissenschaftsgebietes der Neuropsychologie. Lurija arbeitet hierbei in verschiedenen Instituten. Vor allem in den 50er Jahren muss er sich jedoch erneut politischen Restriktionen aussetzen. Grund ist diesmal seine Ablehnung einer blinden Unterwürfigkeit gegenüber den Lehren Pawlows, die von der Regierung zum Dogma erklärt wird.
  • Im Ausland erlangt Lurija jedoch internationales Ansehen und wird später auch in Russland beruflich rehabilitiert. Er stirbt 1977 in Moskau.

 

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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