Alexander R. Lurija - Biographie

6. Romantische Wissenschaft

Neben den umfangreichen theoretisch-analytischen Arbeiten, die A. R. Lurija im Laufe seines Lebens veröffentlichte, muss einer weiteren, sehr bedeutenden Herangehensweise des (Neuro-)Psychologen an die Wissenschaft Rechnung getragen werden. Sie spiegelt Lurijas vielschichtige Sichtweise von der Wissenschaft wider und greift den grundsätzlichen Diskurs über Herangehensweisen an Phänomene der Wirklichkeit mit der Frage wieder auf, welcher Ansatz zum besseren Verständnis der Realität führen kann.

Dieser anderen Seite wurde bisher in dieser Arbeit wenig Beachtung geschenkt, auch deshalb, weil Lurija die Idee erst gegen Ende seines Lebens zum Ausdruck gebracht hat, wenngleich ihn dieses Gebiet schon von Anfang an interessiert hat und er es neben der Neuropsychologie zu einer seiner Lebensaufgaben gemacht hat, sie neu zu begründen: Die Romantische Wissenschaft.

6.1 Romantische - Klassische Wissenschaft

Lurija sieht zwei grundlegende Orientierungen in der Wissenschaft, deren Bezeichnung bereits der Physiologe, Philosoph und Mediziner Max VERWORN (1915) (1863 - 1921) geprägt hatte: die klassische auf der einen Seite, die romantische Wissenschaft auf der anderen.

Bevor diese beiden Seiten einer Wissenschaft dargestellt werden, seien an dieser Stelle allgemeine Anmerkungen zum Wesen einer Wissenschaft nach LEFRANCOIS (1994) gemacht. Eine Wissenschaft kann nicht nur unter dem Aspekt betrachtet werden, dass sie Informationen sammelt. Sie umfasst auch die Art und Weise, wie man zu diesen Informationen kommt und wie sie letztendlich interpretiert werden. Deshalb ist mit dem Begriff der Wissenschaft gleichzeitig auch jeweils eine bestimmte Einstellung verbunden, die beachtet werden muss, will man ihr Wesen verstehen. Wissenschaft ist also nicht nur eine Ansammlung von einzelnen Forschungsgebieten oder eine Reihe von Methoden, die helfen, Wissen zu erwerben bzw. zu systematisieren.

Auch die zwei Grundorientierungen der Wissenschaft, um die es in diesem Kapitel geht, schließen ebenso eine persönliche Einstellung mit ein, wie dies LURIJA (1993) im Sinne Max VERWORNS bemerkt.

Beide Wissenschaften gehen auf unterschiedliche Weise an Ereignisse bzw. Phänomene heran (LURIJA 1993):

In der sog. Klassischen Wissenschaft werden diese Ereignisse in ihre Bestandteile zerlegt, also in wesentliche Einheiten und Elemente. Daraus werden allgemeingültige Regeln und Gesetze formuliert, die den Anspruch auf Präzision, Objektivität und Wiederholbarkeit haben. Diese Gesetze werden dann als Prinzipien aufgefasst, die den untersuchten Erscheinungen zugrunde liegen.

Der Nachteil dieser methodischen Herangehensweise an die Wirklichkeit besteht darin, dass die individuelle Vielfalt auf abstrakte Schemata reduziert und die lebendige Wirklichkeit in elementare Komponenten aufgespaltet wird. Die ganze klassische Schule ist geprägt von diesem Reduktionismus. Dabei werden, und das ist der eigentliche Kritikpunkt, die Eigenheiten des lebendigen Ganzen nicht mehr berücksichtigt.

Natürlich hat auch GOETHE dieses Manko erkannt und es lyrisch verpackt:

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum" (zit. n. LURIJA 1993, 177).

In der sog. Romantischen Wissenschaft, so führt LURIJA (1993) weiter aus, stehen gerade die entgegengesetzten Interessen, Vorstellungen und Einstellungen von der Wirklichkeit im Vordergrund. Das oberste Ziel stellt gerade die Bewahrung des Reichtums der Lebenswelt dar. Die Romantische Wissenschaft soll diesen Reichtum in den Vordergrund rücken, indem sie sich an das Wesen eines Individuums annähert und die Beziehungen und Zusammenhänge aufzeigt, in denen es zu seiner Welt steht.

Auch diese Herangehensweise weist ihre Mängel auf. So wird hier die Logik vernachlässigt, d.h. die Argumentationslinie wird nicht schrittweise aufgebaut. Außerdem ersetzen Beschreibungen und Beobachtungen oft die Erklärung völlig, so dass Intuition und künstlerische Neigungen im Vordergrund stehen zum Nachteil der Wissenschaftlichkeit, denn dann wird der Beobachter zu Pseudoerklärungen verführt, die sich auf sein subjektives Verständnis der Phänomene beziehen. In diesem Fall liegt keine wissenschaftliche Beobachtung mehr vor.

Gerade wegen der Mängel sind beide Stile in der Wissenschaft für eine umfassende Darstellung notwendig. Beide hat Lurija auch in seinen Arbeiten angewandt.

In dieser Gegenüberstellung der zwei konträren Ansätze sah LURIJA (1993) eine Wiederholung des Konfliktes, der in der Psychologie ausgetragen wurde: der Streit zwischen nomothetischem und idiographischem Ansatz, der jeweils der erklärenden, physiologischen und der beschreibenden, phänomenologischen Schulen der Psychologie zugrunde lag und den Wygotskij als Krise der Psychologie bezeichnete, die es zu überwinden galt. Mit diesem Gegensatz sah sich Lurija auch bereits zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere konfrontiert.

Ebenso wie damals war es auch hier das Ziel Lurijas, die beiden konträren Seiten in Einklang miteinander zu bringen, ohne damit den jeweiligen Stil in Abrede zu stellen (SACKS 1993). Das heißt nicht, dass er einen Kompromiss zwischen beiden anstreben wollte, bei dem beide Stile zur Unkenntlichkeit miteinander verschmolzen werden. Vielmehr lag ihm daran, zwischen beiden zu vermitteln. Ihre Gemeinsamkeit sollte darin bestehen, dass das Individuum als Lebewesen im Zentrum bestehen bleibt - reale Menschen und keine intellektuellen Abstraktionen. Diesem Prinzip setzte Lurija eine neue Denkweise voraus, welche die Stärken der klassischen und romantischen Wissenschaft mit einbezieht, dagegen ihre Mängel möglichst außen vor lässt.

LURIJA (1993) schreibt von sich selbst, dass er in seinem wissenschaftlichen Leben die meiste Zeit versucht hat, diese beiden Ansätze in seinem Schaffen zum Ausdruck zu bringen. Dabei war er darum bemüht, die beiden Unternehmungen nicht als gegensätzlich, sondern vielmehr als sich ergänzend aufzufassen. Lurija verfasste auf der einen Seite „systematische" Schriften (z. B. theoretische Abhandlungen über die höheren psychischen Prozesse) im Stil der klassischen Wissenschaft, die v.a. durch einen gewissen unpersönlichen Stil gekennzeichnet sind, welcher der Objektivität ihrer Methode entspricht. Auf der anderen Seite schrieb er „biographische" Bücher im Stil der romantischen Wissenschaft, die fälschlicherweise oft als unwissenschaftliche und fast peinliche Verirrungen eines alten Mannes abgetan wurden. Wie wissenschaftlich und umfassend diese „romantische" Seite des Wissenschaftlers im Grunde genommen ist, soll gerade in seinen beiden berühmt gewordenen aber auch kritisierten neurologischen Fallgeschichten herausgestellt werden, mit denen sich das nächste Kapitel beschäftigt.

 6.2 Fallgeschichten Lurijas - Der Aufstieg zum Konkreten

Mit seinen Fallgeschichten hatte Lurija es sich zum Ziel gesetzt, die Tradition der romantischen Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert in der Blüte gestanden hatte, wieder aufzunehmen. Dieses Unternehmen stellte SACKS (1991;1993) zufolge einen Jugendtraum für ihn dar, da er sich schon früh mit Biographien, wie den „Imaginären Portraits" von Walter PATER (1887), beschäftigt hatte. Auch Freud muss an dieser Stelle erwähnt werden, der ebenfalls mit Fallgeschichten, allerdings von der psychoanalytischen Seite her, versuchte, das Wesen des Menschen zu erkunden. Sie sollten stilistisches Vorbild sein, auf dem Lurija seinen eigenen Stil aufbaute.

Lurija selbst wollte damit eine Brücke schlagen zwischen Anatomie und Kunst und somit die für unmöglich gehaltene Verbindung verwirklichen. Die Brücke, um bei diesem Bild zu bleiben, sollte mit jenen „biologischen Biographien" gebaut werden. Damit wollte Lurija das „anatomisierte Totalportrait des leidenden Individuums" (SACKS 1993, 18) entwerfen, das die Persönlichkeit in den Vordergrund stellt und mit ihr alle Determinanten, die deren Entwicklung bedingen. Im Sinne der Romantischen Wissenschaft sollte so die Einmaligkeit des Individuums herausgearbeitet werden.

Die wichtigste Methode stellt dabei die wissenschaftliche (psychologische) Beobachtung dar mit dem Ziel, das zu Beobachtende nicht isoliert, sondern in seinen Beziehungen zu anderen zu betrachten (LURIJA 1993). (Auch im Entwicklungsansatz der kulturhistorischen Psychologie steht die Beziehung zwischen Umwelt (Mutter) und Kind, zwischen Mensch und Kultur usw. im Vordergrund!).

Ein möglichst tiefes Verständnis von diesen Beziehungen und Verbindungen soll demnach das begriffliche Verständnis des Dinges oder Vorganges oder Prozesses anreichern (JANTZEN 1994).

Bei seinen Beobachtungen geht Lurija von dem von MARX geprägten Terminus „Aufsteigen zum Konkreten" aus, der sich nach JANTZEN (1994) in drei Stufen unterteilen lässt.

  • Das Aufsteigen im Abstrakten, hinter der die Analyse des vorliegenden Syndroms steht, also die Identifizierung eines Verletzungsherdes, die einen Störungskomplex im Bereich der höheren psychischen Prozesse bedingt.
  • Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, bei der die gewonnene abstrakte Einsicht über das Syndrom in die historische Situation, den Lebenskontext des Individuums, zurückgesetzt wird. Dadurch erhält der jeweilige Fall eine konkrete und einmalige Dimension.
  • Das Aufsteigen im Konkreten, wodurch die Geschichte des Patienten rekonstruiert wird und seine Krankheit nicht als solche, im herkömmlichen Sinn als Defizit, sondern als Geschichte seiner Persönlichkeit angesehen wird und den Einfluss, den sie auf die Persönlichkeit nimmt.

Dabei werden sowohl allgemeine als auch individuelle Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt, was eine Rekonstruktion der konkreten Einmaligkeit des Individuums ermöglichen soll.

Diese Methode verwirklichte Lurija eben in seinen neurologischen Fallgeschichten, in denen er reale Personen beschreibt und ihre Gesetze des geistigen Lebens:

„Ich wählte diese Menschen, weil jeder von ihnen einen Wesenszug aufwies, der bei der Herausbildung seiner Persönlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt hatte und der ihn von allen anderen Menschen unterschied. Ich versuchte diesen Wesenszug mit Sorgfalt zu untersuchen und aus ihm die anderen Merkmale seines Charakters abzuleiten" (LURIJA 1993, 182).

Die Besonderheit dieser Biographien besteht für SACKS (1991) darin, dass sie einen ungewöhnlich langen Zeitraum umspannen, in denen Lurija jene Personen begleitet und beobachtet hat, jeweils ca. 30 Jahre.

Zudem ist ihr Stil hervorzuheben, der für Lurija bei der Erforschung des Menschen unabdingbar ist: Die Verbindung von exakter Analyse (im klassischen Sinne) auf der einen und tiefgehender Einfühlung in die individuelle Person (im romantischen Sinne) auf der anderen Seite. Es handelt sich also nicht mehr um rein medizinische oder wissenschaftliche Darstellungsformen, sondern um eine Verschmelzung von Persönlichem und Wissenschaftlichem.

Lurija hat somit eine neue literarische Art geschaffen, die eine detaillierte Narration mit verständlicher, schöner und unangestrengter Sprache in den Vordergrund stellt mit dem Ziel, damit alle inneren Prozesse eines Menschen, die Beziehungen und Konfrontationen mit seiner Umwelt, seine Persönlichkeitsentwicklung usw. zu rekonstruieren, dies jedoch mit dem analytischen Scharfsinn eines Wissenschaftlers (SACKS 1994).

Übertragen auf die einzelnen individuellen Fälle heißt das, dass ein (klinisches) Syndrom nicht isoliert dargestellt wird, sondern in engem Bezug auf das bestimmte Leben der jeweiligen Person und die Auswirkungen, die es auf diese eine Person hat.

Wie oben schon erwähnt, sind Lurijas wahre Erzählungen in der Tradition der Fallgeschichten aus dem 19. Jahrhundert geschrieben, jedoch setzt er einen höheren Anspruch und erneuert diese Tradition auf radikale Weise, da er den wissenschaftlichen Anspruch wahrt und sich durch sie auch als Neuropsychologe mitteilt. Neben den beiden Fallgeschichten, die Lurija gegen Ende seines Lebens veröffentlichte, steht auch seine eigene Autobiographie in dieser Tradition der Romantischen Wissenschaft, in der er rückblickend über sein Leben als sowjetischer Psychologe schreibt (LURIJA 1993).

Die zwei Fallgeschichten von Lurija unterscheiden sich nur scheinbar völlig voneinander (SACKS 1973). Denn die eine („Kleines Portrait eines großen Gedächtnisses", im Original 1968 erschienen) handelt von einem mentalen Wunder, einem Gedächtniskünstler, der nichts vergessen kann, die andere („Der Mann, dessen Welt in Scherben ging" 1971) von einem mentalen Ruin, einem Kriegsverletzten, der plötzlich alles vergessen hatte. Beide beschreiten zwar völlig andere Wege, jedoch geht es um die gleiche Situation: Beide versuchen, ihre Identität unter widrigen Umständen bewahren zu können, also ihr Leben mit ihren vorhandenen Fähigkeiten zu bewältigen und die nicht vorhandenen bzw. zerstörten so weit wie möglich zu kompensieren.

Im Folgenden soll am Beispiel einer seiner beiden bekannt gewordenen realen Biographien dieser Stil Lurijas dargestellt werden, der sich auch durch einen raffinierten Wechsel von Biographischem und Autobiographischem, also von Beobachtung und Selbstbeobachtung auszeichnet. Der andere Fall findet sich in der angegebenen Literatur wieder.

6.3 Der Mann, dessen Welt in Scherben ging

Mit dieser Geschichte zeichnet LURIJA (1991) das Leben des Mannes Sassezkij nach, dessen neurologische Geschichte 1943 mit einer Katastrophe beginnt, nämlich mit der Zerstörung seiner Geisteskräfte, verursacht durch eine Verwundung der linken Gehirnhälfte durch Granatsplitter.

Aufgrund des an dieser Stelle noch mangelnden neuropsychologischen Vorwissens soll hier nur ansatzweise auf den Inhalt eingegangen werden. An anderer Stelle wird die Thematik jedoch unter dem Aspekt ihrer klinisch-neurologischen Bedeutung noch einmal als Beispiel aufgenommen werden.

Die Verletzung hatte das nach Lurija so eingeteilte „zweite funktionelle System" (Verweis auf Teil II) zerstört, dass der Aufnahme, Verarbeitung und dem Behalten von Sinneseindrücken dient. Das hatte zur Folge, dass seine Wahrnehmung in allen Bereichen gestört war, sowohl hinsichtlich seiner eigenen Körperempfindung als auch hinsichtlich der Synthese der verschiedenen Sinneswahrnehmungen - er konnte also die auf ihn einströmenden Sinneseindrücke nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Das gleiche Problem tat sich ihm beim Verstehen und Produzieren von Sätzen auf. Der Patient litt an schwerer Aphasie und Amnesie. Es war ihm nicht möglich, einen Redefluss aufzunehmen und die Gedanken, die sich dahinter verbargen, zu begreifen. Es schwärmten lediglich - bildlich gesprochen - Bruchstücke von Wortbedeutungen in seinem Kopf herum, die sich gegenseitig behinderten und die er nicht in Beziehung zueinander setzen konnte.

Seine Verletzung hatte auch Auswirkungen auf die semantischen Wissensstrukturen in seinem Gedächtnis (LURIJA 1991). Alles Wissen, das er vor seinem Unfall gelernt hatte, und das in sog. Systemen abgespeichert war, war „verschwunden", er konnte die Systeme nicht mehr abrufen. Dahingegen konnte er sich an Episoden und Stationen seines Lebens nach und nach erinnern, was darauf schließen lässt, dass sein episodisches Gedächtnis intakt geblieben war, aber gleichzeitig den Spalt zeigt, der sich in seinem Gehirn zwischen Erinnerung und Vergessen aufgetan hatte (für Näheres zur Funktionsweise und Einteilung des Gedächtnisses sei auf die weiterführende Literatur verwiesen).

Allgemein gesprochen hatte er das verloren, was man „innere Sprache" nennt, durch welche die Wirklichkeit als Welt von Relationen begreifbar wird. Beispielsweise war es ihm nicht möglich, die Frage danach zu beantworten, ob ein Elefant größer als eine Fliege sei, d.h. er hatte zwar eine Vorstellung von diesen Tieren, verstand jedoch die Relationen größer oder kleiner nicht. Er konnte die Logik grammatikalischer Konstruktionen nicht verstehen.

„Er hatte das Allermenschlichste eingebüßt, die Fähigkeit, Sprache zu gebrauchen" (LURIJA 1991, 95).

Die anderen Systeme jedoch, die u. a. die Bewusstheit oder die Planung von Aktivitäten regulieren, waren intakt geblieben, so dass sich Sassezkij seines Zustandes bewusst war und das Ziel und den Willen hatte, diesen Zustand ändern zu wollen.

Außerdem war seine Vorstellungskraft und die Fähigkeit für Phantasie und Empathie nicht der Verletzung zum Opfer gefallen. Auch Melodien konnte er ohne weiteres behalten. Er war fähig, kleine Gegebenheiten des täglichen Lebens zu genießen, einzuschätzen und zu verstehen, wenn er sie auch nicht analysieren oder Dinge darin benennen konnte (SACKS 1973). Diese Fähigkeiten werden heute in der Literatur der rechten Gehirnhälfte zugeschrieben, die auch bei Sassezkij nicht beeinträchtigt war. Lurija selbst konnte dies vom damaligen Stand der Wissenschaft her nur vermuten.

An diesem Punkt setzte eine langwierige und mühsame Behandlung und Rehabilitation an, die LURIJA (1993) anschaulich beschreibt und in der er einen Wendepunkt sah, als Sassezkij entdeckte, dass er noch schreiben kann (Lesen hatte er jedoch verlernt). Diesen Vorgang konnte er zwar nicht bewusst steuern, doch es war ihm möglich, auf den beim Schreiben wirksamen Automatismus (Schreiben in einem Zug) zurückzugreifen. Von da an dokumentierte er seine eigene Geschichte in Form eines Tagebuches mit, das schließlich Ausmaße von über 3000 Seiten annahm. Die Aufzeichnung geschahen unter größten Anstrengungen, da er plötzlich und ohne Zusammenhang auftauchende Erinnerungsfetzen aufschreiben und später zusammenfügen musste. Doch das Schreiben bzw. das Beschreiben seines Schicksals wurde für Sassezkij das Wichtigste, was sein Leben ausfüllte und sein einziges Mittel, um sein Denken weiterentwickeln zu können.

Er sah zudem hierin die einzige Möglichkeit, seine Vergangenheit wiederzubeleben, in der Zukunft seine Welt in Scherben bewältigen zu können und überhaupt, sich der Außenwelt mitteilen zu können:

  • „Vielleicht wird es den Menschen helfen, besser zu verstehen, was sie besitzen und was sie durch einen einzigen kleinen Splitter verlieren können, der ins Gehirn eindringt, die Vergangenheit zerstört, die Gegenwart in Tausende von Bruchstücken zertrümmert und ihnen die Zukunft nimmt" (SASSEZKIJ; zit. n. LURIJA 1991, 92).

Mit dem Schreiben versuchte er, sein Leben zu rekonstruieren, zu erforschen und zu verstehen. Sassezkij konnte damit seinen Kampfwillen gegen das Vergessen antreten und die Hoffnung hegen, damit seinem Leben wieder eine Ordnung geben zu können.

Ohne jene für den Verfasser äußerst mühseligen Aufzeichnungen hätte Lurija dieses Portrait nicht in der Genauigkeit nachzeichnen können, auch spricht er selbst davon, dass der eigentliche Autor dieser Geschichte der Held selbst sei (LURIJA 1991).

Zudem lieferte diese Form der Selbstbeobachtung wertvolles Wissen über die Neuropsychologie, da er fähig war, eine ausführliche und zusammenhängende Analyse seiner Schädigung zu geben, die er selbst als „geistige Aphasie" bezeichnete (LURIJA 1991). Das Leiden und die damit verbundene Verzweiflung konnten dem Mann nicht genommen werden, d.h. die zerstörten zerebralen Funktionen konnten nicht wiederhergestellt werden. Doch was auch Lurija mit diesem Fall zeigen wollte, war, dass Sassezkij dadurch, dass er sein neues altes Leben in seiner Erzählung konstruierte, auch zu einer neuen Lebensqualität gelangte. Er hatte mit den Fähigkeiten, die ihm geblieben waren, und harter aktiver Erinnerungsarbeit wieder ein Gefühl von seinem eigenen Leben und von seiner Lebenswelt bekommen.

Zusammenfassend lässt sich mit SACKS (1973) feststellen, dass Alexandr Lurija mit dieser Geschichte einen Reichtum an Beobachtungen hinterlassen hat, die in ihrer Exaktheit, Klarheit und Einheit den unnachahmlichen Stempel der Wahrheit tragen.

Doch er geht über diese Beobachtungen hinaus und zieht Schlüsse für die Neuropsychologie. Lurija vermittelt so ein lebhaftes Bild von der Neuropsychologie als eine humane Wissenschaft, die Verständnis für Personen, ihre Sprache und die menschliche Verfassung allgemein voraussetzt und Empathie fordert (LIST 1994).

Dieses Verständnis geht allerdings mit der Forderung einher, es mit fundiertem, sich immer weiter aufbauendem Wissen zu untermauern und zu begleiten. Aus dem Grund soll diesem Wissen auch der zweite Teil dieser Arbeit gewidmet werden.

Weiterführende Literatur:

  • Lurija, A. R. (1991): Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Fallgeschichten. Reinbek. 27 - 145
  • Schneider, W./Büttner, G. (1998): Entwicklung des Gedächtnisses. In: Oerter, R./Montada, L.: Entwicklungspsychologie. Weinheim. 654 - 704
  • Springer, S. P./Deutsch, G. (1995): Linkes, rechtes Gehirn. Heidelberg

6.4 Exkurs: Oliver SACKS 

Der Neuropsychologe Oliver Sacks hat die Tradition von Lurijas neurologischen Fallgeschichten weitergeführt. Er hat Lurija als seinen geistigen Mentor betrachtet und stand in den letzten Lebensjahren Lurijas von 1973 - 1977 mit ihm in Briefkontakt. Er selbst schreibt von sich, dass sowohl Lurija als auch Wygotskij und Leontjew Einfluss auf sein Denken und seine Arbeit ausübten (SACKS 1994).

Wegen diesen Verbindungen und dem Bekanntheitsgrad von Oliver Sacks.: 

 

der spätestens seit „Awakenings" vielen ein Begriff ist, soll an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs auf ihn eingegangen werden.

6.4.1 Briefwechsel mit Lurija

SACKS (1994) wurde 1953 als Student der Medizin zum ersten Mal auf Lurija aufmerksam, als er sein Buch „Nature of Human Conflicts" las. 1959 hörte er in London Lurija in einem Vortrag über die sprachliche und geistige Entwicklung eineiiger Zwillinge, der ihn tief beeindruckte, ebenso wie die Persönlichkeit Lurijas.

Nach seiner Übersiedelung in die USA, wo er sich als Neurologe weiterbilden ließ, wurde er wiederum auf Lurija aufmerksam, als er sein Buch „Die höheren kortikalen Funktionen des Menschen" las. Nachdrücklich beeindruckt haben ihn allerdings letztendlich Lurijas Fallgeschichten im Stil der Romantischen Wissenschaft, welche die wissenschaftliche Arbeit Sacks geprägt haben. Die erste las er 1968, für die zweite „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging" schrieb er eine Rezension, auf die Lurija persönlich mit einem Brief antwortete. („Ich zitterte fast, denn mir war, als hätte ich einen Brief von Freud empfangen", SACKS 1994, 111).

Von diesem Zeitpunkt standen sie in Briefkontakt. SACKS (1994; 1995) erwähnt mehrfach die Leidenschaft Lurijas, mit der er Briefe in sechs verschiedenen Sprachen an Menschen aus verschiedensten Ländern schrieb. In Briefen sah er eine Möglichkeit, seine Gedanken mit weniger Zurückhaltung zu äußern, als er dies in seinen Veröffentlichungen tun konnte, da eine innere oder äußere Zensur ihn trotz größerer Freiheit nach dem Tode Stalins an allzu freier Meinungsäußerung hinderte.

Sacks soll den krimibegeisterten Lurija zudem regelmäßig mit Kriminalromanen versorgt haben. Lurija hat demnach eigenen Angaben zufolge alle 155 Edgar Wallace Romane gelesen.

6.4.2 Der Tag, an dem mein Bein fortging

Was Sacks an dem russischen Neuropsychologen besonders nachhaltig beeindruckte, war dessen Verständnis von neuropsychologischen Phänomenen, das er ihm v.a. in Briefen mitteilte, als Sacks selbst gerade zum Patient geworden war. Er hatte sich ein Bein gebrochen, wobei auch die Nervenbahnen beschädigt worden waren, und war zwar erfolgreich operiert worden, doch stellte es sich als Problem heraus, dass Sacks dieses Bein plötzlich als nicht mehr ihm zugehörig wahrnehmen konnte (dies lässt sich zur Veranschaulichung in gewissem Sinne mit der Betäubung beim Zahnarzt vergleichen, bei der man seinen Kiefer nicht mehr als einen solchen wahrnimmt) (SACKS 1995). Diese neurologische Störung des Körperbildes, das sog. Pötzlsche Syndrom, wie Lurija in einem Brief aus der Ferne diagnostizierte, wurde jedoch von den behandelnden Ärzten als Hysterie, also als psychiatrisch relevante Erscheinung abgetan und nicht vor neuropsychologischem Hintergrund behandelt, so dass Sacks gezwungen war, als Patient und Arzt zugleich den Problemkomplex dieser „peripheren Störung" selbst zu erforschen.

Lurija ermutigte ihn dabei in entscheidender Weise:

„Sie sind dabei, ein ganz neues Gebiet zu entdecken (...). Bitte veröffentlichen Sie ihre Beobachtungen. Das wird dazu beitragen, den ‚veterinärmedizinischen' Umgang mit peripheren Störungen zu verändern und einer umfassenderen und menschlicheren Medizin den Weg zu bahnen" (LURIJA, zit. n. SACKS 1995, 9).

Mit „veterinärmedizinischem" Umgang meinte Lurija eine rein objektive, analytische Betrachtung einer Störung, die das Bewusstsein des Betroffenen, also die Subjektivität eines Menschen, nicht mit einbezieht (SACKS 1995).

Sacks fand mit Hilfe von Studien Lurijas und Leontjews über die neuropsychologische Theorie der Tätigkeit und Selbstreferenz, die jene während der Rehabilitationsarbeit mit Kriegsverletzten entwickelt hatten, heraus, dass erst durch die Tätigkeit mit dem jeweiligen Körperteil, also z. B. durch den Gebrauch der Hände, das zugehörige Schema wieder in das ganze Körperschema reintegriert, d. h. subjektiv angeeignet werden könne und nicht mehr als fremd empfunden werde. Somit kann eine „Wiederbelebung" in dem Sinne stattfinden, dass eine Vorstellung von der beeinträchtigten Extremität wieder möglich ist und das Vorhandensein der jeweiligen Extremität als Teil des ganzen Körpers rückgemeldet werden kann (SACKS 1994; LEONTJEW 1960).

Diese Erkenntnis, nämlich dass eine Wiederherstellung der Tätigkeitsvorstellung neben der orthopädischen Rehabilitation ausschlaggebend für die weitere Behandlung ist, konnte Sacks auf seine Arbeit mit Menschen, die ähnliche Leiden wie Phantomglieder oder orthopädische Verletzungen hatten und über dieselben Symptome klagten, beziehen. Seine eigene Erfahrung half ihm, diese für Außenstehende schwer nachvollziehbaren und deshalb oft nicht ernst genommenen Störungen verstehen zu können.

6.4.3 Forderung nach einer Neurologie der Identität

Die Verletzung, die eine Störung seines Körperbildes und damit eine Art Identitätsveränderung nach sich zog, wurde für Sacks zu einer Schlüsselerfahrung, die ihn dazu führte, sich intensiver mit dem Selbst auseinander zu setzen, das für ihn in wesentlicher Beziehung zum eigenen Körper und seiner Wahrnehmung stand (SACKS 1995). Dies führte ihn in ein neues Gebiet der Neuropsychologie, zu dem ihn ja auch Lurija aufgefordert hatte. Dieses Gebiet beschäftigt sich mit Verlusten des Körperbildes und damit einhergehenden Störungen des Körper-Ichs. Damit verlagert sich der Schwerpunkt vom Objekt der neurologischen Störung zum Subjekt, das diese Störung hat, das leidende und handelnde Ich.

Dieses hat ja auch LURIJA (1991) in seinen Fallgeschichten zum Hauptdarsteller gemacht. Doch bei seinen Fällen geht es sich nicht um Formen der Identitätsveränderung, d.h. um Störungen des Selbst, sondern um Störungen bestimmter Funktionen oder Systeme und zwar der linken Hirnhemisphäre. Die rechte Gehirnhälfte war zur Zeit Lurijas bei weitem nicht derartig erforscht, wie das bei der linken der Fall war. Ein Grund für diese Vernachlässigung liegt u.a. darin, dass Auswirkungen von Verletzungen der linken Hemisphäre leichter zu diagnostizieren sind, weil sie auch ausgeprägter ausfallen, was bei Verletzungen der rechten Gehirnhälfte nicht der Fall ist. Ausfälle dort können jedoch die Identität beeinflussen. Da in diesem Rahmen auf die Hemisphären und ihre Funktionen nicht näher eingegangen werden kann, sei auf weiterführende Literatur am Ende des Exkurses verwiesen.

An dieser Stelle setzt SACKS (1995) mit seiner Forderung nach einer Weiterentwicklung der Neurowissenschaften hin zu einer Neurologie der Identität an, welche sich mit den neuronalen Grundlagen des Selbst und der alten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist auseinandersetzt. Durch sie soll der Körper in den Vordergrund gestellt werden als etwas Persönliches, der die erste Definition von ‚Ich' und ‚Selbst' liefert und damit von der Identität.

Damit beruft sich Sacks auf die Theorie von Gerald EDELMANN (1989), der ein Bewusstsein primärer und höherer Ordnung unterscheidet. Das „primäre Bewusstsein" wird durch Identität (der Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst), Erinnerung (zeitliche Einbettung des Selbst)und Raum (persönlicher Raum des Selbst) gebildet und definiert. Es ist normalerweise nicht wahrnehmbar und zeigt seine Existenz paradoxerweise erst, wenn es zusammenbricht, also wenn es nicht mehr da ist.

Mit dem sog. „Bewusstsein höherer Ordnung" sind Sprache, Begriffsvermögen und Denken gemeint, das sozusagen als Metaebene das primäre Bewusstsein reflektieren und Konstrukte dafür finden kann.

Zum besseren Verständnis dieser Theorie führt SACKS (1995) seine eigene Situation an, in der er sein Bein nicht mehr spürte. Das primäre Bewusstsein über sein Bein brach zusammen: er konnte sich weder an sein Vorhandensein erinnern, noch es im Raum fühlen oder es als zu ihm gehörig identifizieren, während das höhere Bewusstsein auf der Metaebene Erklärungsmöglichkeiten für dieses Phänomen suchte, aber nichts an der Situation ändern konnte. Erst als er sein Bein wieder im Raum wahrnimmt und sich quasi an sein Dasein rückerinnert, kann er es als zu seinem Körper und damit als zu seiner Identität zugehörig empfinden.

6.4.4 Der Begriff der „Krankheit" bei SACKS

Wie schon erwähnt hat Sacks die Tradition der Romantischen Wissenschaft Lurijas wieder aufgenommen und durch jenen inspiriert eine große Anzahl an neurologischen Fallgeschichten verfasst. Er schreibt selbst, dass er beispielsweise „Awakenings" (1989) niemals schreiben bzw. jenen biographischen Stil hätte entwickeln können, wenn er nicht Lurijas Fälle gelesen hätte (SACKS 1994).

Auch er verfolgt das Ziel, mit den Geschichten die Bereiche des Physischen und Psychischen, also Körper und Geist einander anzunähern und Auswirkungen physiologischer Prozesse auf die jeweilige Biographie zu untersuchen (SACKS 1987). Doch er verlagert seinen Schwerpunkt dabei anders als bei Lurija von den „traditionellen Störungen", die meist die linke Hemisphäre betreffen (wie z. B. der Aphasie etc.), auf neurologische Störungen der rechten Hemisphäre, die das Selbst, das Wissen von der eigenen Identität, betreffen (siehe oben). Ebenso wie für Lurija stehen jedoch auch im Mittelpunkt seines Interesses die Anpassungsleistungen der Betroffenen und ihr individueller Weg, wie sie mit ihrer „Krankheit" weiterleben.

Von dieser Warte aus definiert Sacks den Begriff der neurologischen „Krankheit" in gewissem Sinne neu. Er fordert auf, den Begriff der Krankheit "mehr unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit (Hervorhebung d. Verf.) eines Organismus zu betrachten, eine neue, den veränderten Dispositionen und Bedürfnissen entsprechende Organisation und Ordnung aufzubauen, als aus dem Blickwinkel einer streng definierten ‚Norm' " (SACKS 1997, 15).

Das heißt nicht, dass Sacks die Norm außer Acht lässt. Er lässt vielmehr zu, dass die Subjektivität des betroffenen Organismus über dieser Norm bestehen bleibt und ihr nicht zum Opfer fällt. „Krankheit" in diesem Sinne wird also verstanden als eine Reaktion des betroffenen Organismus letztlich mit dem Ziel, die eigene Identität zu bewahren, mit welchen - oft seltsam anmutenden - Mitteln auch immer. Seine Aufgabe als Arzt sieht Sacks neben anderen auch darin, diese Mittel zu untersuchen und zu beeinflussen. Denn diese Reaktion des Individuums, also die „Krankheit", stellt Sacks immer wieder als Mittler zwischen den beiden Komponenten „Welt" und „Subjekt" dar und zeigt dadurch die Möglichkeit zur Entwicklung neuer, anderer Lebensqualitäten auf. Sie ermöglichen diesen Menschen, sich in ihrer Welt wieder zurecht zu finden, nachdem sie zunächst aus der Bahn geworfen waren. So gesehen ist Krankheit aus der Sicht des betroffenen Individuums keine Krankheit in dem Sinne mehr, wie es ihm ein externer Beobachter zuzuschreiben vermag.

Weiterführende Literatur:

  • Edelman, G. M. (1989): The Remembered Present. A Biological Theory of Consciousness. New York
  • Internetseiten zu Oliver Sacks: 
    www.sacks.debox.de 
    www.oliversacks.com 
    www.m-ww.de/persoenlichkeiten/sacks.html 
  • Sacks, O. (1987): Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek
  • Sacks, O. (1989): Awakenings - Zeit des Erwachens. Weinheim
  • Sacks, O. (1995): Der Tag, an dem mein Bein fortging. Reinbek
  • Sacks, O. (1997): Die Anthropologin vom Mars. Reinbek
  • Springer, S. P. /Deutsch, G. (1995): Linkes, rechtes Gehirn. Heidelberg

6.5 Zusammenfassung

  • 1. Lurija sieht zwei Grundorientierungen in der Wissenschaft: 
 Klassische WissenschaftRomantische Wissenschaft
Ziel- Zerlegung von Ereignissen in ihre Bestandteile
- Formulierung allgemein-gültiger Gesetze (mit Anspruch auf Präzision, Objektivität und Wiederholbarkeit)
- Bewahrung des Reichtums der Lebenswelt
- Annäherung an das Wesen des Individuums (und dessen Beziehung u. Zusammenhänge zur Welt)
Nachteile- Reduzierung individueller Vielfalt auf abstrakte Schemata
- Keine Berücksichtigung der Einheiten des individuellen Ganzen
- Vernachlässigung der Logik
- Überhandnehmen von künstlerischer Neigung und Intuition

Tab.3: Gegenüberstellung klassische und romantische Wissenschaft

  • Ziel Lurijas: Vermittlung zwischen beiden Seiten durch die Gemeinsamkeit: Im Zentrum steht das Individuum.
  • Ziel der Fallgeschichten Lurijas ist es, eine Verbindung von exakter (klassischer) Analyse und tiefgehender (romantischer) Einfühlung in die individuelle Persönlichkeit zu erreichen (àVerschmelzung von Persönlichkeit und Wissenschaft). Sie spiegeln den Marxschen Terminus „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten" wider. Durch diese Methode sollen sowohl allgemeine als auch individuelle Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt werden. Die Fallgeschichten zeichnen sich zudem durch einen Wechsel von Autobiographie (Selbstbeobachtung) des Betroffenen und biographischer Beobachtung Lurijas aus.
  • In dem Beispiel „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging" beschreibt Lurija die Geschichte eines Hirnverletzten im Krieg, für den Denken und Sprechen keine Ordnung mehr darstellen. Auch ist er unfähig, seine Welt so zu ordnen, wie sie vorher gewesen ist. Mit Hilfe der intakt gebliebenen Fähigkeit des Schreibens (trotz einer vorhandenen Alexie, der Unfähigkeit, Lesen zu können) beginnt er jedoch, seine Geschichte zu dokumentieren und seine Vergangenheit aus Erinnerungsfetzen zu rekonstruieren. Dadurch erhält sein Leben neue Qualität und Perspektive.
  • Der britisch-amerikanische Neuropsychologe Oliver Sacks, der die Tradition von Lurijas Fallgeschichten weiterführt, steht 1973 - 1977 in Briefkontakt mit Lurija. Lurija regt ihn zur Beschäftigung mit dem neuropsychologischen Problemkomplex der Eigenwahrnehmung bei sog. peripheren Störungen an, an denen Sacks zeitweise selbst litt.
  • Durch diese Forschung sieht er die Notwendigkeit nach einer Neurologie der Identität, die sich mit den neuronalen Grundlagen des Selbst beschäftigen soll. Dabei wird der Körper als erste Definition von „Ich" und „Selbst" verstanden.
  • Sacks Interesse gilt deshalb v.a. neurologischen Störungen, die das Selbst betreffen und sieht in diesem Zusammenhang Krankheit als Fähigkeit eines Organismus an, eine neue Organisation und Ordnung aufzubauen. Krankheit stellt also den Mittler zwischen Welt und Subjekt dar.

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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