Neuromyelitis optica Spektrum Erkrankungen (NMO) (ICD-10 G36.0)

Devic- Syndrom, Ophthalmoneuromyelitis, Devic-Krankheit, Neuroencephalomyelopathia optica, Devic's Syndrom (engl.)

Historie

  • 1894 Beschreibung von insgesamt 16 Fällen mit simultaner Optikusneuritis und transversaler Myelitis durch Eugène Devic (1858-1930) und seinem Studenten Fernand Gault
  • Betitelung als Neuromyelitis optica durch E. Devic
  • 1907 Bezeichnung der NMO als Devic-Syndrom

Ätiologie

  • Wasserkanalprotein Aquaporin-4 reguliert Wasser- und  Elektrolyttransport im ZNS
  • Autoimmun vermittelte Schädigung von Astrozyten mit Zelltod
  • Komplementaktivierung
  • Läsionen im Bereich der weißen und grauen Substanz
  • Areale mit hoher Aquaporin-4 Expression:
    • Periaquäduktales Grau, Area postrema, Hypothalamus, Dienzephalon, angrenzend an 3. Ventrikel, periependymal entlang Seitenventrikel, graue Substanz des Rückenmarks (Kortikospinale Bahnen), weiße Substanz in den Hemisphären
  • Ursächlich wahrscheinlich Kreuzreaktion nach viraler/bakterieller Infektion
  • Induktion erhöhter Glutamatspiegel durch NMO-IgG, dadurch Zerstöung myelin-produzierender Zellen

Epidemiologie

  • Meist Auftreten im Kindes- oder Jugendalter oder in 4. Dekade
  • w>m
  • Prävalenz ca. 0,7-10/100.000
  • Inzidenz ca. 0,37-4/1.000.000

Formen der NMO-Spektrum Erkrankungen

Seropositive Formen

  • Klassische Form der NMO
  • Überwiegend Frauen 10:1

Seronegative Formen

  • w:m ca. 2:1
  • Ca. 20% MOG-Enzephalitis mit Nachweis von Antikörpern gegen Myelin-Oligodendrozyten-Gylokoprotein

Symptome

Neuritis nervi optici

  • Ein- oder beidseitige Visusminderung
    • Verschwommenes Sehen
    • Reduzierte Sehschärfe
    • Bulbusbewegungsschmerz
    • Evtl. Marcus-Gunn-Zeichen
  • Beidseitiges Auftreten hochgradig verdächtig auf NMO-SE
  • In ca. 80% initial einseitige Retrobulbärneuritis
  • Langstreckige Affektion des Nervus opticus (gel. bis zum Chiasma)
  • Schlechte Prognose

Myelitis in HWS oder BWS

  • Myelitis über mindestens 3 Segmente reichend
  • "Longitudinal extensive transverse myelitis" - LETM
  • Gel. bis Bulbär aufsteigend mit entsprechender Klinik
  • Sensible oder motorische Defizite
  • Schmerzen:
    • Schmerzsymptomatik sehr häufig
    • Hyperalgesie, Allodynie, neuralgische Schmerzen, schmerzhafte Spastik
    • Neuropathischer Juckreiz

Zerebral bedinge Symptomatik

  • Area postrema Symptomatik:
    • Schluckauf
    • Übelkeit
    • (Unstillbares) Erbrechen
  • Hirnnervenaffektion
    • Okulomotorikstörungen
    • Faziale Parese
  • Sensible und motorische Symptome entsprechend zerebralen Läsionen

Autonome und endokrine Störungen:

  • ADH-Sekretion
  • Hyperprolaktinämie
  • Hypotension
  • Hypothermie

Schlafstörungen (Dienzephale Läsionen)

Epileptische Anfälle

  • Selten
  • Häufiger bei MOGAD

Verlauf

  • Krankheitsschübe gelegentlich kurz hintereinander, teilweise mit Intervallen von Monaten bis Jahren

Begleiterkrankungen

  • Häufige Assoziation mit anderen Autoimmunerkrankungen (bis zu 30%!)
  • z.B. Autoimmunthyreoitiden, Sjögren-Syndrom, systemischer Lupus erythematodes, Myasthenia gravis

Besonderheiten bei der klinischen Untersuchung

  • Temporale Abblassung der Papille (nicht im aktuen Krankheitsstadium)
  • Befunde einer Rückenmarksaffektion

Diagnosekriterien der Neuromyelitis optica (nach Wingerchuck 2015)

Neuromyelitis optica Spektrum Erkrankung mit AQP4-Antikörper

  1. Mindestens 1 klinisches Kernsypmtom
  2. Positiver Test für AQP4-IgG unter Verwendung der besten diagnostischen Methode (zellbasierter Assay empfohlen)
  3. Ausschluß alternativer Diagnosen

Neuromyelitis optica Spektrum Erkrankung ohne AQP4-Antikörper oder unbekanntem AQP4-IgG-Status

  1. Mindestens 2 klinische Kernsypmtomeals Folge einer oder mehrerer klinischer Schübe und Erfüllung aller folgender Punkte
    • Mindestens 1 Kernsymptom muß eine Opticusneuritis, akute Myelitis mit LETM oder Area postrema Syndrom sein
    • Örtliche Dissemination (2 oder mehr unterschiedliche Kernsymptomen)
    • Erfüllung der zusätzlichen MRT-Kriterien, wie unten angegeben
  2. Negativer Test für AQP4-IgG unter Verwendung der besten diagnostischen Methode (zellbasierter Assay empfohlen) oder wenn Untersuchung nicht möglich
  3. Ausschluß alternativer Diagnosen

Kernsymtome der NMO

  1. Neuritis nervi optici
  2. Akute Myelitis
  3. Area postrema Syndrom (Episode anders nicht zu erklärenden Schluckaufs oder Übelkeit mit Erbrechen
  4. Akute Hirnstammsymptomatik
  5. Symptomatische Narkolepsie oder akute dienzephal klinisches Syndrom mit NMOSE-typischen MRT-Läsionen
  6. Symptomatische cerebrale Syndrome mit NMOSE-typischen MRT-Läsionen

Zusätzliche MRT-Kriterien für NMOSE ohne AQP4-IgG und NMOSE mit unbekanntem AQP-IgG Status

  1. Akute Optikusneuritis:
    • MRT-Kopf zeigt (a) einen Normalbefund oder unspezifische Läsionen der weißen Substanz, ODER (b) MRT des Nervus opticus mit T2-hyperintensen Läsionen oder T1-gewichteten Gadolinium anreichernden Läsionen, die mehr als die Hälfte der Länge des Nervus opticus betreffen oder das Chiasma opticum inkludieren
  2. Akute Myelitis
    • Intramedulläre Läsion, die sich mindestens über 3 Segmente erstreckt (LETM) ODER mind. 3 zusammenhängende Segmente einer fokalen Atrophy des spinalen Rückenmarks bei Patienten mit einer Historie passend zu einer akuten Myelitis
  3. Area postrema Syndrom
    • Nachweis einer Läsion der dorsalen Medulla oblongata/Area postrema
  4. Akutes Hirnstamm Syndrom
    • Nachweis einer periependymalen Hirnstammläsion

Diagnosekriterien nach Wingerchuck et al. Neurology 2015 Jul 14;85(2):177-89.2

Diagnostik

Evozierte Potentiale

  • VEP
    • Latenzverzögerung und Verplumung der Potentiale
    • Amplitudenminderung
  • Tibialis-SEP
    • Latenzverzögerung sowie evtl. Amplitudenminderung

Kernspintomographie mit Kontrastmittel

  • MRT-HWS/ MRT-BWS
    • Myelitis:
      • Langstreckige Herde über ≥3 Segmente oder fokale Atrophie über ≥3 aneinander angrenzende Segmente
    • Meist im zervikalen und oberen thorakalen Myelon
    • Affektion nahe Zentralkanal in gauer Substanz
    • Ausgeprägte transversale Läsionen
    • Bright spotty lesions (sehr helle Läsionen in T2-Wichtung)
    • Häufig im akuten Stadium Schrankenstörung
  • MRT-Kopf
    • Bei erstem Schub häufig normal
    • Läsionen in Medulla oblongata
      • Läsion in der dorsalen Medulla oblongate (Area postrema)
      • Siehe auch unter "Symptome" - Area postrema Syndron
    • Hirnstamm:
      • Periependymale Hirnstammläsionen (4. Ventrikel)
    • Dienzephalon
      • Hypothalamus
        • verantwortlich für autonome Störungen und Schlafstörungen/Narkolepsie
      • Hyophyse
      • Periventrikulär des III.Ventrikels
    • Cerebrum /(sub-) kortikal
      • Ca. 2/3 der Patienten mit Läsionen im Cerebrum
      • Ausgeprägte periependymale Läsionen
      • Corpus callosum (Balken)
        • Diffuse, heterogene oder ödematöse Herde
      • Langstreckige Pyramidenbahnläsionen (ein- oder beidseitig) mit Beteiligung der Capsula interna und Pedunclulus cerebri
      • Herde größer als bei MS (tumefaktiv)
        • Ein- oder beidseitig, konfluierend subkortikal oder tiefe weiße Substanz
      • Nicht senkrecht zu Ventrikeln wie bei der MS
    • Nervus opticus:
      • Gel. normale Kernspintomographie des Kopfes´(oder unspezifische White matter lesions)
      • Häufig beidseitige Beteiligung
      • Insbesondere hinere Anteile und Chiasma opticus betroffen
      • Ausgeprägte longitudinale Beteiligung (>50% der Länge des Nervus opticus) oder Beteiligung des Chiasma opticum
    • Aktive Läsionen:
      • Noduläre Anreicherungen
      • Wolkenartige Anreicherungen
      • Strichartige ("Pencil-thin") Läsionen

Liquordiagnostik

Im Krankheitsschub:

  • Pleozytose in ca. 50% der Fälle
  • Zellen:
    • Bis >100 Zellen/µl
    • Lymphozytär
    • Häufig Neutrophile und Eosinophile
  • Keine intrathekale Synthese von AQP-4 Antikörpern, daher IgG-AK i.L. meist negativ
  • Oligoklonale Banden  < 50% positiv, im Intervall seltener
  • Negative MRZ-Reaktion

Im Intervall:

  • Häufig unauffällige Liquoruntersuchung
  • Oligoklonale Banden häufig transient
  • Wiederholte Liquoruntersuchungen bei Verdacht auf NMO sinnvoll!

Blutuntersuchung

  • Nachweis von Aquaproin-4 Antikörpern in ca. 80% positiv
  • Aquaporin4-IgG Antikörper mit 99% Spezifität
  • Verwendung zellbasierter Verfahren wichtig (höhere Sensitivität)
  • Untersuchung auf AQP4-IgG im Schub (höhere Titer!)
  • Wiederholte Untersuchung auf AQP4-IgG bei erneuten Krankheitsschüben (bei seronegativen Patienten)
  • Bei entsprechendem Verdacht Untersuchung auf begleitende Autoimmunerkrankungen

Therapie (Detaillierte Informationen nach Login)

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Akuttherapie

  • Methylprednisolon
  • Alternativ Plasmaphereseoder Immunasorption mit mind. 5 Zyklen
  • Intravenöse Gabe von Immunglobulinen (off-label-use)

Propyhlaktische Therapie

  • Immunsuppressiva:
    • Azathioprin
    • Mitoxantron
    • Methotraxat
  • Monoklonale Antikörper
    • Eculizumab
      • Antikörper gegen Aktivierung des Komplementsystems
    • Inebilizumab
      • Antikörper gegen CD19-exprimierdende B-Zellen
      • Intravenöse Applikation
      • Infusion alle 6 Monate
    • Ravulizumab
      • Antikörper gegen terminale Aktivierung des Komplementsystems
      • Intravenöse Applikation
      • Gabe alle 8 Wochen
    • Satralizumab
      • Antikörper gegen Interleukin-6-Rezeptoren
      • Erhaltungstherapie: 120 mg alle 4 Wochen
      • Subkutane Injektion
    • Tociluzimab
      • Antikörper gegen Interleukin 6-Rezeptor
  • Kein Einsatz von Interferonen (Verschlechterung der Symptomatik)
  • Fingolimod, Natalizumab wahrscheinlich unwirksam

Verlauf

  • Akute Verlaufsform mit rasch aufeinanderfolgender Symptomatik häufig innerhalb von Wochen
  • Zweiter Schub bei ca. 60% im ersten Jahr, bei 90% innerhalb von 3 Jahren
  • Rezidivierender Verlauf über Jahre mit wiederholten Myelitiden und zunehmender klinischer Progredienz häufig
  • Nur sehr selten monophasische Verläufe (ca. 10%)
  • Prognose bez. des Visus schlecht (Erblindung bei ca. 60% nach 7 Jahren)
  • Bei zervikaler/bulbärer Beteligung höhere Mortalität
  • Seropositive Formen mit schweren Verläufen, relapsierend
  • Seronegative mit häufig monophasischem Verlauf

Differentialdiagnose

Literatur

Fachartikel

  1. Jarius S, Aktas O, Ayzenberg I, Bellmann-Strobl J, Berthele A, Giglhuber K, Häußler V, Havla J, Hellwig K, Hümmert MW, Kleiter I, Klotz L, Krumbholz M, Kümpfel T, Paul F, Ringelstein M, Ruprecht K, Senel M, Stellmann JP, Bergh FT, Tumani H, Wildemann B, Trebst C; Neuromyelitis Optica Study Group (NEMOS). Update on the diagnosis and treatment of neuromyelits optica spectrum disorders (NMOSD) - revised recommendations of the Neuromyelitis Optica Study Group (NEMOS). Part I: Diagnosis and differential diagnosis. J Neurol. 2023 Jul;270(7):3341-3368. doi: 10.1007/s00415-023-11634-0. Epub 2023 Apr 6. PMID: 37022481; PMCID: PMC10267280. (open access)

  2. Wingerchuk DM, Banwell B, Bennett JL, Cabre P, Carroll W, Chitnis T, de Seze J, Fujihara K, Greenberg B, Jacob A, Jarius S, Lana-Peixoto M, Levy M, Simon JH, Tenembaum S, Traboulsee AL, Waters P, Wellik KE, Weinshenker BG; International Panel for NMO Diagnosis. International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology. 2015 Jul 14;85(2):177-89. doi: 10.1212/WNL.0000000000001729. Epub 2015 Jun 19. PMID: 26092914; PMCID: PMC4515040.(open access)